Kant: Briefwechsel, Brief 87, Von Iohann Georg Hamann. |
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| Von Iohann Georg Hamann. | |||||||
| 7. April 1774. | |||||||
| P. P. | |||||||
| Gleich nach Empfang meines Buchs habe selbiges zu meinem | |||||||
| Freunde dem D Lindner gebracht, und ich bin nicht im stande das | |||||||
| mir mitgetheilte Skelett als nach einer genauen Vergleichung zu verstehen | |||||||
| und zu beurtheilen. Vor der Hand theile meinen Begriff von | |||||||
| der Hauptabsicht unsers Autors ohne Buch und aus den bloßen Eindrücken | |||||||
| meines Gedächtnisses mit, in folgenden Puncten: | |||||||
| I. Die mosaische Schöpfungsgeschichte ist nicht von Mose selbst; | |||||||
| sondern von den StammVätern des menschl. Geschlechts. Dies | |||||||
| Altertum allein macht sie uns zwar ehrwürdig; aber verräht | |||||||
| zugleich die wahre Kindheit unsres Geschlechts. - - - | |||||||
| II. Diese Origines sind kein Gedicht, noch morgenländische Allegorie, | |||||||
| am wenigsten ägyptische Hieroglyphen: sondern eine | |||||||
| historische Urkunde im allereigentlichsten Verstande - ein | |||||||
| ächtes Familienstück - ja zuverläßiger als das gemeinste | |||||||
| physicalische Experiment. | |||||||
| III. Diese mosaische Archäologie ist der einzige und beste Schlüßel | |||||||
| aller bisherigen Räthsel und Mährchen der ältesten morgenländischen | |||||||
| und homerischen Weisheit, die von jeher implicite | |||||||
| bewundert und verschmäht worden ohne jemals von den naseweisesten | |||||||
| und kriechendsten Kritikern verstanden zu seyn | |||||||
| das aus dieser Wiege des menschl. Geschlechts zurückgeworfene | |||||||
| Licht klärt die heil. Nacht in den Fragmenten aller Traditionen | |||||||
| auf. Hier liegt der einzige zureichende Grund von der unerklärlichen | |||||||
| Scheidewand und Veste wilder und cultivirter Völker. | |||||||
| IV. Um jeden geneigten Leser mosaischer Schriften ihren ursprünglichen, | |||||||
| einfältigen, überschwenglich fruchtbaren Sinn | |||||||
| wiederherzustellen, gehört nichts mehr dazu als alle Festungswerke | |||||||
| der neuesten Scholastiker und Averroisten, deren Geschichte | |||||||
| und Verhältnis zu ihrem Vater Aristoteles zum klärsten | |||||||
| Beweise und Beyspiel dienen kann, zu sprengen, niederzureißen | |||||||
| u.s.w. | |||||||
| Dies hat mein Freund Herder gethan nicht mit der todten Kritick eines | |||||||
| ErdenSohns wie Longin, den der Blitz eines einzigen mosaischen bon | |||||||
| mots auf der Stelle rührte, sondern mit der Eroberungswuth, an | |||||||
| deren Grosmuth ich eben so viel Seelenweide gefunden als unser | |||||||
| Criminalrath Hippel an dem Ludergeschmack eines gebratenen Hasens. | |||||||
| Dies ist zugleich die Punctation einiger Bogen, die ich mir vorgenommen, | |||||||
| HöchstzuEhrender Herr Professor Ihrer Censur als einem | |||||||
| Iudici competenti des Schönen und Erhabenen, wie ich bereits an | |||||||
| meinen Freund Herder vorläufig geschrieben, zu unterwerfen. Ihr | |||||||
| Imprimatur wird unsern Freund, den Buchdrucker zu Marienwerder | |||||||
| bewegen so wol zum Verlage als zu der politischen Klugheit keinen | |||||||
| Schriftsteller nach seinem Actien-System, das der Himmel am besten | |||||||
| kennt zu beurtheilen | |||||||
| Vor der Hand kommt mir das Autorverdienst unsers Landmanns | |||||||
| so entschieden vor, daß ich mit gutem Gewißen rathen kann als | |||||||
| ein schöpferischer Kopf von seiner Arbeit zu ruhen, und seine Ruhe | |||||||
| wird Ehre seyn. Ich würde noch zeitig gnug erscheinen mit meiner | |||||||
| Arbeit, wenn die ingenia praecocia unsers kritischen philosophisch=politischen | |||||||
| Iahrhunderts ihr Pulver und Bley ein wenig verschoßen haben, | |||||||
| ohnedem da sich von ihrem Vorrathe ein ziemlich genauer Ueberschlag | |||||||
| machen läßt. | |||||||
| Daß die theologische Facultät U. L. F. Albertin[a] aber einem | |||||||
| römisch=apostolisch=katholischen Ketzer und Krypto=Iesuiten den Doctorhut | |||||||
| ertheilen können - und daß dieser in der deutschen Apologie seines | |||||||
| Frey=Ordens und in einer Dissertatio deren gantzer theologisch-historisch | |||||||
| antiquarischer Wust in verbis tralatitiis ex Gentilismo praetereaque | |||||||
| nihil besteht, auf Einsichten in die disciplinam arcanam des Heidentums | |||||||
| ohne die Katechismuslehren des Christentums einmal zu kennen, | |||||||
| Ansprüche machen darf; dies sticht mir in meinen Nieren | |||||||
| Ich weis nicht, ob mein vterus zu Zwillingen Raum haben wird, | |||||||
| und diese Frage kann niemand als ein | |||||||
| ΣΩΚΡΑΤΗΣ ΜΑΙΝΟΜΕΝΟΣ | |||||||
| Oder ΜΑΙΟΜΕΝΟC | |||||||
| beantworten. Am alten Graben den 7 April. 74. | |||||||
| Lavaters Brief u. übrige Kleinigkeiten habe nicht erhalten. | |||||||
| Hamann. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 156 ] [ Brief 86 ] [ Brief 88 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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