Kant: Briefwechsel, Brief 100, An Iohann Caspar Lavater.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Caspar Lavater.      
           
  Nach dem 28. April 1775.      
           
  (Briefentwurf.)      
           
  Die Gelegenheit die mir ietzt vorkömt meinem letzten abgebrochenen      
  Schreiben noch einiges beyzufügen will ich lieber unvollständig      
  als gar nicht nutzen. Vorausgesetzt: daß kein Buch von      
  welcher Autoritaet es auch sey ja sogar eine meinen eigenen Sinnen      
  geschehene Offenbarung mir etwas zur Religion (der Gesinnungen)      
  auferlegen kan was nicht schon durch das heilige Gesetz in mir      
  wornach ich vor alles Rechenschaft geben muß mir zur Pflicht geworden      
  ist und daß ich es nicht wagen darf meine Seele mit Andachtsbezeugungen      
  Bekentnissen etc. anzufüllen die nicht aus den ungeheuchelten      
  und unfehlbaren Vorschriften desselben entsprungen sind      
  (weil Statuten zwar Observanzen aber nicht Gesinnungen      
  des Herzens hervorbringen können) so suche ich in dem Evangelio      
  nicht den Grund meines Glaubens sondern dessen Bevestigung und      
  finde in dem moralischen Geiste desselben dasienige was die Nachricht      
  von der Art seiner Ausbreitung und die Mittel es in die      
  Welt einzuführen kurz: dasienige, was mir obliegt von dem was      
  Gott zu meinem Vortheil thut deutlich unterscheidet also mir nichts      
  Neues auferlegt sondern (es mag auch mit den Nachrichten beschaffen      
  seyn wie es wolle) doch den guten Gesinnungen neue Stärke und      
  Zuversicht geben kan. So viel zur Erläuterung der Stelle meines      
  vorigen Schreibens von der Absonderung zweyer verknüpften aber      
  ungleichartigen Theile der heil: Bücher und der Art sie auf mich      
  anzuwenden.      
           
           
  Was Ihre Auffoderung betrift über die Gedanken (in den      
  Verm: Schriften vom Glauben und Gebeth mein Urtheil zu sagen so      
  besteht es in folgendem. Das wesentliche und vortreflichste von der      
  Lehre Christi ist eben dieses: daß er die Summe aller Religion darinn      
  setzte Rechtschaffen zu seyn aus allen Kräften im Glauben d. i. einem      
  unbedingten Zutrauen daß Gott alsdenn das übrige Gute was nicht      
  in unserer Gewalt ist ergänzen werde. Diese Glaubenslehre verbietet      
  alle Anmaßung die Art wie Gott dieses thue wissen zu wollen      
  imgleichen die Vermessenheit dasienige aus eignem Dünkel zu bestimmen      
  was in Ansehung der Mittel seiner Weisheit am gemäßesten      
  seye alle Gunstbewerbungen nach eingeführten gottesdienstlichen Vorschriften      
  und läßt von dem unendlichen Religionswahn wozu die      
  Menschen zu allen Zeiten geneigt seyn nichts übrig als das allgemeine      
  und unbestimte Zutrauen daß uns dieses Gute auf welche Art es auch      
  sey zu Theil werden solle wenn wir so viel an uns ist uns durch      
  unser Verhalten dessen nur nicht unwürdig machen.      
           
           
           
     

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