Kant: AA X, Briefwechsel 1783 , Seite 340

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und mit aller Politur versehen auch das Urtheil des letzteren nicht      
  02 wird scheuen dürfen. Haben Sie die Gütigkeit, nur noch einmal einen      
  03 flüchtigen Blick auf das Ganze zu werfen und zu bemerken, daß es      
  04 gar nicht Methaphysik ist, was ich in der Critik bearbeite, sondern      
  05 eine ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, nämlich die Critik      
  06 einer a priori urtheilenden Vernunft. Andere haben zwar dieses      
  07 Vermögen auch berührt, wie Locke so wohl als Leibnitz, aber immer      
  08 im Gemische mit anderen Erkentniskräften niemand aber hat sich auch      
  09 nur in die Gedanken kommen lassen, daß dieses ein Obiect einer förmlichen      
  10 und nothwendigen, ja sehr ausgebreiteten Wissenschaft sey, die      
  11 (ohne von dieser Einschränkung, auf die bloße Erwägung des alleinigen      
  12 reinen Erkentnisvermögens, abzuweichen) eine solche Mannigfaltigkeit      
  13 der Abtheilungen erfoderte und zugleich, welches wunderbar      
  14 ist, aus der Natur desselben alle Obiecte, auf die sie sich erstrekt,      
  15 ableiten, sie aufzählen die Vollständigkeit durch ihren Zusammenhang      
  16 in einem ganzen Erkentnisvermögen beweisen kan; welches gantz      
  17 und gar keine andere Wissenschaft zu thun vermag, nämlich aus dem      
  18 bloßen Begriffe eines Erkentnisvermögens (wenn er genau bestimmt      
  19 ist) auch alle Gegenstände, alles was man von ihnen wissen kan, ja      
  20 selbst was man über sie auch unwillkührlich, obzwar trüglich zu urtheilen      
  21 genöthigt seyn wird, a priori entwickeln zu können. Die Logik, welche      
  22 jener Wissenschaft noch am ähnlichsten seyn würde, ist in diesem Puncte      
  23 unendlich weit unter ihr. Denn sie geht zwar auf jeden Gebrauch      
  24 des Verstandes überhaupt; kan aber gar nicht angeben, auf welche      
  25 Obiecte und wie weit das Verstandeserkentnis gehen werde, sondern      
  26 muß desfals abwarten was ihr durch Erfahrung oder sonst anderweitig      
  27 (z. B. durch Mathematik) an Gegenständen ihres Gebrauchs      
  28 wird geliefert werden.      
           
  29 Und nun, mein werthester Herr, bitte ich Sie, wenn Sie sich noch      
  30 in dieser Sache etwas zu verwenden belieben, Ihr Ansehen und Einflus      
  31 zu gebrauchen, um mir Feinde, nicht zwar meiner Person (denn ich      
  32 stehe mit aller Welt im Frieden) sondern jener meiner Schrift zu erregen      
  33 und zwar solche nicht anonymische, die nicht auf einmal alles,      
  34 oder irgend etwas aus der Mitte angreifen, sondern fein ordentlich      
  35 verfahren: zuerst meine Lehre von dem Unterschiede der analytischen      
  36 und synthetischen Erkentnisse prüfen, oder einräumen, alsdenn zu der      
  37 Erwägung jener, in den Prolegomenen deutlich vorgelegten allgemeinen      
           
     

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