Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 089

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 formales und synthetisches Principium aller Erfahrungen sei, und die Erscheinungen      
  02 eine nothwendige Beziehung auf den Verstand haben.      
  03 Jetzt wollen wir den nothwendigen Zusammenhang des Verstandes      
  04 mit den Erscheinungen vermittelst der Kategorien dadurch vor Augen      
  05 legen, daß wir von unten auf, nämlich dem Empirischen, anfangen. Das      
  06 erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein      
  07 verbunden ist, Wahrnehmung heißt (ohne das Verhältniß zu      
  08 einem wenigstens möglichen Bewußtsein würde Erscheinung für uns niemals      
  09 ein Gegenstand der Erkenntniß werden können und also für uns      
  10 nichts sein und, weil sie an sich selbst keine objective Realität hat und nur      
  11 im Erkenntnisse existirt, überall nichts sein). Weil aber jede Erscheinung      
  12 ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüthe      
  13 an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung      
  14 derselben nöthig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben      
  15 können. Es ist also in uns ein thätiges Vermögen der Synthesis dieses      
  16 Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar      
  17 an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension      
  18 nenne*). Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung      
  19 in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre      
  20 Thätigkeit aufnehmen, d. i. apprehendiren.      
           
  21 Es ist aber klar, daß selbst diese Apprehension des Mannigfaltigen      
  22 allein noch kein Bild und keinen Zusammenhang der Eindrücke hervorbringen      
  23 würde, wenn nicht ein subjectiver Grund da wäre, eine Wahrnehmung,      
  24 von welcher das Gemüth zu einer andern übergegangen, zu den      
  25 nachfolgenden herüber zu rufen und so ganze Reihen derselben darzustellen,      
  26 d. i. ein reproductives Vermögen der Einbildungskraft, welches denn auch      
  27 nur empirisch ist.      
           
  28 Weil aber, wenn Vorstellungen so, wie sie zusammen gerathen, einander      
  29 ohne Unterschied reproducirten, wiederum kein bestimmter Zusammenhang      
  30 derselben, sondern blos regellose Haufen derselben, mithin      
           
    *) Daß die Einbildungskraft ein nothwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen theils nur auf Reproductionen einschränkte, theils weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Function der Synthesis derselben, erfordert wird.      
           
     

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