Kant: Briefwechsel, Brief 755, Von Iohann Heinrich Tieftrunk.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Heinrich Tieftrunk.      
           
  20. Iuni 1797.      
           
  Verehrungswürdigster Mann!      
           
  Der Herr Professor Beck, welcher durch die öftern Unterhaltungen,      
  welcher wir über philosophische Gegenstände pflegen, weiß, wie sehr      
  mich alles, was die Philosophie betrifft, interessiert und wie sehr ich      
  Sie, theuerster Greis, bewundere und verehre, hatte die Güte, mir      
  Ihren letzten Brief an ihn, welcher das Verhältniß seines "Standpunkts      
  zur Kritik der r. V." betrifft, in engster Vertraulichkeit mitzutheilen.      
  Ich ehre dies gütige Vertrauen meines Freundes eben so      
  sehr, als es mir angenehm war, durch Ihren Brief die Meinung des      
  würdigen HE. Hoffpred. Schulz und vermittelst dessen auch Ihre Meinung      
           
  von der Schrift des HE. Beck, in Ansehung der Kritik der r. V. zuvernehmen.      
       
           
  Während mich die Versuche Anderer, Ihre "Kritik" zu wiederlegen      
  oder ihr ein Fundament zu geben oder wohl gar neue Principia      
  zu finden und aufzustellen nicht irre machten, indem die Kritik der r.      
  V. mich durch ihre Methode so wohl als Ihren Inhaltvollkommen      
  befriedigte, zog doch die eigne Ansicht und der Standpunct, aus welchem      
  HE. Beck den Weg zu demselben Ziele, welches die Kritik vor sich hat,      
  zunehmen anräth, meine Aufmerksamkeit auf sich und ich habe mich      
  mit ihm darüber vielfältig unterhalten; ohne iedoch biß ietzt mit ihm      
  ganz einig werden zu können.      
           
  Ich glaubte, daß es Ihnen und auch dem HE. H[of] P[rediger] Schulz,      
  dem ich bei dieser Gelegenheit meine Hochachtung zuversichern bitte, nicht      
  unangenehm sein mögte, wie ich als ein Dritter, der die Kritische Philosophie      
  lange studirt hat, über das Verhältniß des "Standpunkts      
  zur Kritik der r. V. urtheile.      
           
  In dieser Absicht schien es mir dienlich, Ihnen eine kleine Probe      
  zu geben, ob oder wie ich Ihre Kritik verstehe. Ich wählte dazu den      
  mir sehr wichtigen und wie ich glaube auch schwierigsten Punkt in der      
  Transsc: Philosophie über die Möglichkeit der Erfahrung und die hiermit      
  zusammenhängende Deduction der Kategorien.      
           
  Ich stelle die Sache zuerst so auf, wie ich glaube, daß sie die      
  Kritik der r. V. verstanden wissen will, hierauf führe ich die Idee      
  des HE. Beck an, freilich nur in einem nakten Riß, iedoch so viel,      
  daß sich die Tendenz derselben hervorthut uud ich drittens als ein      
  Freier, welchen die "Kritik" durch ihre Form und ihre Sachen in      
  allen ihren Theilen interessirt, einige Bedenklichkeiten gegen den      
  Versuch des HE. Beck anschliessen konnte. Alles mit Wissen und      
  Willen des HE. Becks.      
           
  Die anliegenden Blätter sind aber ganz zu Ihrer Disposition,      
  Sie mögen sie lesen oder auch hinwerfen; denn ich habe sie bloß auf      
  den möglichen Fall angeschlossen, daß entweder Sie oder HE H[of]pr[ediger]      
  Schulz davon einigen Gebrauch machen wollten, weil sie eine Sache      
  betreffen, die Sie beide ietzt sehr angelegentlich zu beschäftigen scheint.      
           
  Die Ankündigung und Erklärung wegen HE. Schlettwein habe ich      
  auch gelesen und mich über die Rodomontaden des HE. Schlettwein eben      
  nicht sehr gewundert, denn es scheint sein Steckenpferd zu sein, bald      
           
  diesen bald Ienen herauszufordern. Vor etwa 5 Iahren wollte er mit      
  mir eine ähnliche Fehde anfangen, allein, nachdem ich ihm einmal      
  geantwortet hatte, hat er nicht wieder geschrieben. Hoffentlich wird      
  sich sein ganzer Sturm gegen die Kritik der r. V. auch mit dem      
  Fehdebrief an Sie schon endigen.      
           
  Ich bezeige Ihnen über die auch in Ihren letzten Arbeiten noch      
  immer hervorstechende Munterkeit Ihres hohen Alters meine herzliche      
  Freude. Der Himmel erhalte Sie uns noch lange, das wünscht mit      
  der ganzen Fülle seines Herzens      
           
    Ihr Sie verehrender      
    Diener      
  Halle den 2O Iun: Ioh. Heinr. Tieftrunk.      
  1797.        
           
           
           
     

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