Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 026 |
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| 01 | In der Mathematik verhält sich die Sache anders. Diese Wissenschaft | ||||||
| 02 | kann man wohl gewissermaßen lernen, denn die Beweise sind hier | ||||||
| 03 | so evident, daß ein jeder davon überzeugt werden kann; auch kann sie ihrer | ||||||
| 04 | Evidenz wegen als eine gewisse und beständige Lehre gleichsam aufbehalten | ||||||
| 05 | werden. | ||||||
| 06 | Der philosophiren lernen will, darf dagegen alle Systeme der Philosophie | ||||||
| 07 | nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und | ||||||
| 08 | als Objecte der Übung seines philosophischen Talents. | ||||||
| 09 | Der wahre Philosoph muß also als Selbstdenker einen freien und | ||||||
| 10 | selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft | ||||||
| 11 | machen. Aber auch keinen dialektischen, d. i. keinen solchen Gebrauch, | ||||||
| 12 | der nur darauf abzweckt, den Erkenntnissen einen Schein von Wahrheit | ||||||
| 13 | und Weisheit zu geben. Dieses ist das Geschäft des bloßen Sophisten, | ||||||
| 14 | aber mit der Würde des Philosophen, als eines Kenners und Lehrers der | ||||||
| 15 | Weisheit, durchaus unverträglich. | ||||||
| 16 | Denn Wissenschaft hat einen innern, wahren Werth nur als Organ | ||||||
| 17 | der Weisheit. Als solches ist sie ihr aber auch unentbehrlich, so da | ||||||
| 18 | man wohl behaupten darf: Weisheit ohne Wissenschaft sei ein Schattenri | ||||||
| 19 | von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden. | ||||||
| 20 | Der die Wissenschaft haßt, um desto mehr aber die Weisheit liebt, | ||||||
| 21 | den nennt man einen Misologen. Die Misologie entspringt gemeiniglich | ||||||
| 22 | aus einer Leerheit von wissenschaftlichen Kenntnissen und einer gewissen | ||||||
| 23 | damit verbundenen Art von Eitelkeit. Zuweilen verfallen aber | ||||||
| 24 | auch diejenigen in den Fehler der Misologie, welche anfangs mit großem | ||||||
| 25 | Fleiße und Glücke den Wissenschaften nachgegangen waren, am Ende | ||||||
| 26 | aber in ihrem ganzen Wissen keine Befriedigung fanden. | ||||||
| 27 | Philosophie ist die einzige Wissenschaft, die uns diese innere Genugthuung | ||||||
| 28 | zu verschaffen weiß, denn sie schließt gleichsam den wissenschaftlichen | ||||||
| 29 | Zirkel und durch sie erhalten sodann erst die Wissenschaften Ordnung | ||||||
| 30 | und Zusammenhang. | ||||||
| 31 | Wir werden also zum Behuf der Übung im Selbstdenken oder Philosophiren | ||||||
| 32 | mehr auf die Methode unsers Vernunftgebrauchs zu sehen | ||||||
| 33 | haben als auf die Sätze selbst, zu denen wir durch dieselbe gekommen sind. | ||||||
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