Kant: Briefwechsel, Brief 578, An Iohann Gottlieb Fichte.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Gottlieb Fichte.      
           
  12. Mai 1793.      
           
  Zu der der Bearbeitung wichtiger philosophischer Aufgaben geweiheten,      
  glücklich erlangten Muße gratulire ich Ihnen, würdiger Mann,      
  von Herzen, ob Sie zwar, wo und unter welchen Umständen Sie solche      
  zu genießen hoffen, zu verschweigen gut finden.      
           
  Die Ihnen Ehre machende Schrift: "Kritik aller Offenbarung"      
  habe ich bisher nur theilweise und durch dazwischen laufende Geschäfte      
  unterbrochen gelesen. Um darüber urtheilen zu können, müßte ich sie      
  in einem stetigen Zusammenhange, da das Gelesene mir immer gegenwärtig      
  bleibt, um das Folgende damit zu vergleichen, ganz durchgehen,      
  wozu ich aber bis jetzt weder die Zeit noch die Disposition, die einige      
           
  Wochen her meinen Kopfarbeiten nicht günstig ist, habe gewinnen      
  können. Vielleicht werden Sie durch Vergleichung Ihrer Arbeit mit      
  meiner neuen Abhandlung: Religion innerhalb etc betitelt, am leichtesten      
  ersehen können, wie meine Gedanken mit den Ihrigen in diesem Punkte      
  zusammenstimmen, oder voneinander abweichen.      
           
  Zu Bearbeitung der Aufgabe: Kritik d. r. Vernunft, S. 372 etc.      
  wünsche und hoffe ich gutes Glück von Ihrem Talent und Fleiße.      
  Wenn es nicht jetzt mit allen meinen Arbeiten sehr langsam ginge,      
  woran wol mein vor kurzem angetretenes 70stes Lebensjahr Schuld sein      
  mag: - so würde ich in der vorhabenden Metaphysik der Sitten      
  schon bei dem Kapitel seyn, dessen Inhalt Sie sich zum Gegenstande      
  der Ausführung gewählt haben, und es soll mich freuen, wenn      
  Sie mir in diesem Geschäfte zuvorkommen, ja es meiner Seits entbehrlich      
  machen könnten.      
           
  Wie nahe oder wie fern auch mein Lebensziel ausgesteckt sein      
  mag: so werde ich meine Laufbahn nicht unzufrieden endigen, wenn      
  ich mir schmeicheln darf, daß, was meine geringen Bemühungen angefangen      
  haben, von geschickten, zum Weltbesten eifrig hinarbeitenden      
  Männern der Vollendung immer näher gebracht werden dürfte.      
           
  Mit dem Wunsche von Ihrem Wohlbefinden und dem glücklichen      
  Fortgang Ihrer gemeinnützigen Bemühungen von Zeit zu Zeit Nachricht      
  zu erhalten, bin ich mit vollkommener Hochachtung und Freundschaft      
       
           
  Königsberg den 12. Mai 1793. I. Kant.      
           
           
           
     

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