Kant: Briefwechsel, Brief 527, Von Iacob Sigismund Beck.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iacob Sigismund Beck.      
           
  Halle den 8ten September 1792.      
           
  Theuerster Herr Professor,      
  Sie haben mir erlaubt Ihnen mein Manuscript zu schicken und      
  ich benutze hiemit dieses gütige Anbieten. Da ich es mit Sorgfalt      
  aufgesetzt und kein Nachdenken in dieser Arbeit mir erspahrt habe, so      
  giebt mir dieses einigen Muth dieselbe Ihnen vorzulegen. Was die      
  Schwierigkeiten betrift, die mich bisweilen quälten, und die ich zum      
  Theil Ihnen vorgelegt habe, so habe ich grossentheils und nach und      
  nach aus eigenem fundo sie mir selbst gehoben. Daß der grade Gang      
  auch in Wissenschaften der beßte ist, erfahre ich täglich, indem jedesmahl      
  , daß ich mich überredete, auch in der Critick was eingesehen zu      
  haben, das ich doch nicht hatte, ich mich nur vom Ziel auf längere      
  Zeit entfernt habe. Der Auszug aus der Critick der reinen Vernunft      
  geht in diesen Heften bis zur transcendentalen Dialectick. Ich habe      
  ihn schon einmahl ganz fertig gehabt; aber der Fortschritt in diesem      
           
  Studium und die dadurch erhaltene Aufklärung hat mich vermocht die      
  ganze Arbeit umzuwerfen und von Neuem den Aufsatz zu machen.      
  Aber um eine Unart muß ich um Verzeihung bitten. Ich habe zwar      
  das Manuscript so leserlich als ich konnte geschrieben, aber es war mir      
  unmöglich es abschreiben zu lassen, weil die Leute die man hier dazu      
  braucht, Soldaten sind, und diese sich jetzt in Frankreich befinden.      
           
  Und nun, Lieber, Theurer Lehrer, darf ich freylich nicht wähnen,      
  daß Sie mein ganzes Geschreibe selbst durchgehen werden. Nur um      
  die Gefälligkeit muß ich Sie wirklich ersuchen, die einige Blätter von      
  der Deduction der Categorien und den Grundsätzen durchzugehen, woran      
  mir am meisten gelegen ist und mir zu zeigen, was ich wohl gar      
  falsch dürfte gefaßt, oder Ihrem Wunsche nicht gemäß dargestellt haben.      
  Der Buchdrucker verlangt aber das Manuscript in einer Zeit von      
  acht Wochen und ich bin daher genöthigt es mir gegen Ende des      
  Novembers zurück zu erbitten.      
           
  Noch eine Privatfrage möchte ich gern thun, wozu mir Ihre Critick      
  durch die mir ausserordentlich einleuchtende Bemerkung, daß man einen      
  Raum durchweg erfüllt mit Materie sich denken und gleichwohl das      
  Reale desselben durch unendlich viele Grade verschieden setzen könne.      
  Ich habe mich niemals in die Vorstellungsart Kästners, Karstens etc.      
  daß man die Materie aus gleichförmigen Moleculis von einerley      
  Schwere bestehend sich denken müsse, um die verschiedenen Gewichte      
  gleicher Volumina sich zu erklären, finden können. Die critische Philosophie      
  hat bis zum Ergötzen mich hierüber belehrt. Um nun jene Erscheinung      
  mir zu erklären, stelle ich mir die Sache so vor. Die Erde      
  zieht jeden Körper auf ihrer Oberfläche an, sowie sie auch von ihm      
  angezogen wird. Aber die Wirkung des Körpers gegen *) die Erde ist      
  unendlich klein gegen die welche die Erde auf ihn hat und daher      
  kommt es daß die Fallhöhe im luftleeren Raum aller Körper ganz      
  gleich ist. Hänge ich aber zwey Körper von gleichem Volumen in      
  denen kein Theil leer seyn mag an die Wage, so wird die Wirkung      
  welche die Erde auf beyde äussert gegen einander aufgehoben, aber      
  die Kräfte womit beyde Körper die Erde anziehen, bleiben und sind      
           
  es nun allein welche ein Verhältniß gegen einander haben. Im luftleeren      
  Raum ist das Verhältniß der Kräfte womit beyde Körper zur      
  Erde fallen = a+dx:a+dy=a:a also ein Verhältniß der Gleichheit;      
  aber an der Wage =dx:dy ein Verhältniß der Ungleichheit.      
  Würden beyde Körper auf eine Mondesweite etwa von der Erde erhoben,      
  so würden gewiß ihre Fallhöhen nicht mehr gleich seyn. Ob      
  ich darin wohl recht habe?      
           
  Inliegenden Brief an Sie zu bestellen hat mich Herr M. Rath      
  gebeten. Er hat Lust die Critick ins Latein zu übersetzen und will      
  Sie darum befragen. Da Ihnen dieser Mann gänzlich unbekannt ist,      
  so darf ich wohl einige Worte die ihn kenntlich machen sollen hersetzen.      
  Er ist kein junger Mensch, sondern ein Mann zwischen dreyßig und      
  vierzig Wirklich reine Liebe zu den Wissenschaften hat ihn vom schriftstellerischen      
  Pfad, und diese sowohl als eine grade aufrichtige Denkungsart,      
  von dem Bestreben das andern manchmahl schnell Ehren bringt,      
  abgehalten. Daß er die alten Sprachen kenne habe ich aus dem Munde      
  derjenigen, die hierselbst ein Ansehen deshalb haben. Daß er aber      
  die critische Philosophie mit glücklichem Erfolg studire, davon überführt      
  mich mein vertrauter Umgang mit ihm, der mir das seltene Glück      
  gewährt, meine Gedanken einer menschlichen Seele mit Wohlgefallen      
  mittheilen zu können.      
           
  Künftiges Winterhalbe Iahr werde ich ein Publicum lesen der      
  practischen Philosophie, worauf ich mich herzlich freue, indem ich gewiß      
  viel belehrter es schliessen als ich es anfangen werde.      
           
  Ich schliesse hiemit und empfehle mich Ihrer Gewogenheit, der      
  ich mit Hochachtung und Liebe bin      
           
    der Ihrige      
    Beck.      
           
  Bemerkungen Kants zu vorstehendem Briefe.      
           
  Die größte Schwierigkeit ist zu erklären wie ein bestimmtes      
  Volumen von Materie durch die eigene Anziehung seiner Theil[e] in      
  dem Verhältnis des Qvadrats der Entfernung inverse bey einer Abstoßung      
  die aber nur auf die unmittelbar berührenden Theile (nicht      
  auf die Entferneten) gehen kan im Verhaltnis des Cubus derselben (mithin      
  des Volumens selber) möglich sey. Denn das Anziehungsvermögen      
  kommt auf die Dichtigkeit diese aber wieder aufs Anziehungsvermögen      
           
  an. Auch richtet sich die Dichtigkeit nach dem umgekehrten Verhaltnis      
  der Abstoßung d. i. des volumens - Nun frägt sich ob wenn ich eine      
  Qvantität Materie darin ihre Theile einander in allen Entfernungen      
  nach obigem Gesetz anziehen aber ders[elben] Zurükstoßung doch größer      
  ist sich selbst überlasse ob es eine gewisse Grenze der ferneren Ausdehnung      
  gebe da die Anziehung mit der Zurükstoßung im Gleichgewicht      
  ist oder ob nicht wenn die Zurükstoßung bey einer Dichtigkeit      
  größer ist als die Anziehung sie es nicht ins Unendliche bey größerer      
  Ausdehnung bleibe. Die Abnahme nach dem Cubus der Entfernungen      
  aber scheint das erstere zu bestätigen. Nun kan man viele solche      
  aggregata außer einander denken darin jedes gleichsam einen Dienst      
  für sich ausmacht und die sich einander anziehen, wodurch sie sich mehr      
  verdichten welche Nähertretung aber von einer gewissen ursprünglichen      
  Dünnigkeit des Vniversum durch plötzliche Loslassung geschehen eine      
  immerwährende concussion zuwege bringen würde wodurch die Materie[n]      
  bestimmte für sich beharrliche Klumpen ausmachen könnten die einen      
  Zusammenhang d. i. eine Anziehung haben die nicht von den anziehenden      
  Kräften aller Theile derselben sondern nur von der berührenden      
  herrührete als im Grunde nicht dem Zug sondern dem Druk      
  beyzumessen wäre.      
           
  Die Krafte womit jene zwei Körper die Erde anziehen würden      
  geben immer gleiche Geschwindigkeit derselben weil so viel ihre Masse      
  größer ist indem sie insgesammt die Erde ziehen sie zwar so viel      
  größere Solicitation der Erde eindrücken aber um so viel auch ihre      
  eigene Annäherung zur Erde vermindert wird (wegen ihrer größern      
  Masse) mithin immer dieselbe bleibt so lange das gemeinschaftliche      
  Centrum der Schweere von dem Centrum der Erde nur unendlich wenig      
  entfernt bleibt. - Man muß um den Unterschied der Dichtigkeiten zu      
  erklären annehmen daß dieselbe Anziehungskraft einer gegeben[en]      
  Qvantität Materie gegen eine unendliche verschiedene Zurükstoßungskraft      
  wirke, dieser aber das Ge[gen]gewicht (oder die Gegenwirkung      
  die zur bestimmten Einschränkung des Raumes der isolirten Materie)      
  nicht leisten könne ohne vermittelst der Anziehung aufs ganze vniversum.      
  Da aber diese mit den Qvadraten der Entfernung abnimmt so würde      
  sie durch den Druk der auf solche Weise angezogenen Materie dieses      
  Gleichgewicht einer bestehenden Zusammendrückung nicht leisten wenn      
  nicht die Zurükstoßung als wie der Cubus der Entfernung umgekehrt      
           
  abnähme. Hiedurch wird nicht der Zusammenhang (denn der läßt sich      
  durch keine drückende Kräfte erklären) sondern blos der Unterschied der      
  Materien ihrer Qvalität namlich der Zurükstoßung nach erklärt; den[n]      
  die Zurükstoßung läßt sich ohne eigene Bewegung des Abstoßenden      
  folglich auch ohne Verschiedenheit der Masse in demselben Volumen      
  verschieden denken. Daher die Verschiedenheit der Qvantität derselben      
  nur durch Stoß oder Zug und vermittelst eines gemeinschaftlichen      
  Maasstabes nämlich den Zug der Erde gemessen werden kan und nicht      
  die Mehrheit der Theile ungleichartiger Materien sondern ihr Gewicht      
  die Dichtigkeit unter demselben volumen messen kan.      
           
  Die Schwierigkeit ist hier daß man das was sich bewegt in Gedanken      
  haben muß in der Erfahrung aber nur die an einem Ort oder      
  von einem Orte aus wirkenden Kräfte, von denen nur ein Grad den      
  Raum erfüllt oder die Entfernung des Mittelpuncts der einen Kraft      
  von der andern bestimmt Da aber Puncte nicht einen Raum einnehmen      
  können (nicht einzelne also auch nicht viele zusammen) so kan      
  man die Korper nicht nach der Menge der Theile in Vergleichung mit      
  andern der Qvantität der Substanz nach schätzen und dennoch muß      
  man sie sich als gleichartig und nur durch die Menge der Theile unterschieden      
  vorstellig machen weil wir auf andere Art kein Verhaltnis der      
  Massen uns begreiflich machen können.      
           
  Die Qvantität der Materie in demselben Volumen ist nicht nach      
  dem Wiederstand der expansiven Kraft gegen die Compression, auch nicht      
  nach dem Wiederstande der Attraction eines Fadens durch den Schleuderstein      
  gegen die Centrifugalkraft zu schätzen. Das erste darum nicht weil      
  eine kleine Qvantität der Materie eben so viel Wiederstand durch ausdehnende      
  Kraft leistet als eine große: das [andere] darum nicht weil      
  das Volumen nichts in Ansehung der Bewegung eines Korpers von      
  seiner Stelle bestimmt. Sondern die locomotive Kraft in einer Wage      
  (bey gleichem Volumen) oder die in der Dehnung oder Zusammendrükung      
  eines zusammenhängenden oder elastischen Korpers und also      
  die Uberwältigung eines Moments der todten Kraft bei demselben      
  volumen und zwar durch die Bewegungsbestrebung des Korpers und      
  aller seiner Theile in derselben Richtung kan das Maas abgeben.      
           
  Weil die Erfüllung des Raumes nur durch Räume nicht durch      
  Puncte weder durch ihre bloße Nebeneinanderstellung noch aus jedem      
  Punct umher in einem Raume verbreitete Kraft in der keine andere      
           
  gleichartige Centralpunkte wären moglich ist so enthält die Undurchdringlichkeit      
  der Materie eigentlich nicht die Substanzen als eine Menge      
  außer einander befindlicher für sich bestehender Dinge sondern nur      
  einen Umfang von Wirkungen der Dinge ausser einander die in allen      
  Puncten eines gegebenen Raumes nicht durch Erfüllung desselben gegen      
  wartig sind. Die Puncte der Anziehung enthalten eigentlich die Substanz.      
  Die Anziehungskrafte sind in allen Puncten gleich in jedem Puncte      
  aber wird sie (in Vergleichung mit andern) durch das Abstoßungsvermögen      
  welches in ihm Verschieden seyn kan bestimmt und desto      
  größer je kleiner die abstoßende Kräfte derselben Materie sind mithin      
  die Dichtigkeit der Materie desto größer. - Es ist aber eigentlich nur      
  der Korper so fern er den Raum erfüllt die den Sinnen unmittelbar      
  gegebene Substanz. Weil aber dieses Erfüllen selbst nicht wirklich      
  seyn würde (es wäre durch die bloße Abstoßung im leeren Raume) die      
  Anziehung doch für sich alles in einen Punct bringen würde so ist      
  das Maas der Qvantität der Materie die Substanz so fern sie anziehend      
  ist weil darinn alles innerlich in einem Punct seyn würde      
  und das ausserhalb nicht wieder durch etwas Äußere sondern zuletzt      
  durch das Innere gemessen werden muß dessen außere Wirkung jener      
  äußern gleich ist      
           
  Wenn in einem Raume keine Zurükstoßungskraft wäre so würde      
  auch gar keine Substanz da seyn die da zöge denn sie würde keinen      
  Raum einnehmen. Man könnte sich aber doch eine Abstoßungskraft      
  die einen Raum erfüllete denken die nicht durch eigne Anziehungskraft      
  ihrer Theile sondern durch äußern Druk zurückgehalten würde obzwar      
  dieses nicht ins Unendliche ginge. Also wird das Volumen nur durch      
  Zurükstoßungskraft bestimmt - Wenn wir also die Dichtigkeit unterscheiden      
  worden [wollen?] so müssen die volumina zuvor als durch die Abstoßung      
  bestimmt vorgestellt werden. Aber dadurch wird der Wiederstand      
  den eine Materie der andern so fern sie von dieser aus ihrem Orte bewegt      
  werden soll thut nicht bekannt. Mithin nur durch die Anziehung welche      
  die darin enthaltene Materie auf andere ausser ihr (die Erde) und      
  dadurch zu ihrer eigenen Bewegung (durch die Schwere) ausübt Ie      
  großere Zurükstoßung dazu gehort um diese Annäherung (zur Erde)      
  zu hindern desto mehr Substanz in demselben Volumen. Man muß      
  aber die Anziehung nur als durch die Zurükstoßung eingeschränkt auf      
  ein volumen mithin als an sich gleich denken. Das volumen selbst      
           
  braucht nicht von etwas anderm ausser ihm: es kan durch die Anziehung      
  seiner eignen Theile eingeschränkt gedacht werden - der Grund      
  davon daß die Abstoßung in einem Volumen ohne daß die innern      
  Theile sich ziehen von außen bewirkt werde liegt darin daß die Theile      
  sich nicht in der Entfernung abstoßen da hingegen sie sich in      
  der Entfernung unmittelbar anziehen können: dagegen ist es unmöglich      
  daß sich die Theile blos in der Berührung anziehen sollten weil diese      
  schon eine Zurückstoßung mithin ein volumen erfordert mithin keine      
  bloße Fläche voraussetzt      
           
  Der Grad der Zurükstoßung wird bey gleichartiger Vergrößerung      
  des volumens nicht vermehrt, aber wohl der Grad der Anziehung u.      
  Weil im ersten die Theile innerhalb eine die andere Bewegung aufheben      
  und die ausdehnende Kraft nur auf der Oberfläche ist, (die Abstoßung      
  geht nicht qver durch in die Weite) dagegen die Anziehungen      
  durch Hinzufügung die äußere Kraft vermehren. Daher ist die ganze      
  Kraft der Substanz nach der Anziehung zu schätzen. Sie muß aber      
  auch als gleichartig angesehen werden weil sie für sich gar keine      
  Materie geben würde und da sie nur durch die Zusammendrückung      
  bestimmt wird diese aber durch das Ganze eines volumens allenthalben      
  gleich ist so muß auch die daraus entspringende Dichtigkeit gleich      
  seyn. Die Abstoßung aber kan ursprünglich ungleich seyn in einem      
  gewissen volumen. Denn da die Dichtigkeit ins Unendliche muß verschieden      
  seyn können dieses aber nicht auf der ursprünglichen Verschiedenheit      
  der Anziehung beruhen kan muß sie auf der der Abstoßung      
  beruhen Man kan auch so sagen weil die Stärke der Abstoßung auf      
  der Verschiedenheit des äußern Zusammendruks beruht so ist innerlich      
  der Grad derselben nicht bestimmt kan also nach Belieben größer oder      
  kleiner seyn.      
           
  Man kan keinen Grund angeben warum die materie ursprünglich      
  eine gewiße Dichtigkeit in einer gegebenen qvantitat haben müsse.      
  Man [kann] diese Frage nicht wegen der Anziehung unter einem gewissen      
  volumen thun. Denn daß sie nicht größer ja so gros oder klein      
  ist wie man will kommt nicht auf sie sondern auf die Zurückstoßung      
  an je kleiner diese desto größer die Dichtigkeit aus jener. Die verschiedene      
  Dichtigkeit einer gegebenen Qvantität Materie rührt aber      
  nicht von dieser ihrer Anziehung denn die ist zu klein sondern von      
  der des ganzen Universi her.      
           
           
           
           
    *)Anmerkung Kant's: einen gleichen Theil der Erde aber auf der ganzen Erde ist sie gleich nur nicht der Geschwindigkeit nach, die sie der Erde giebt      
           
     

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