Kant: Briefwechsel, Brief 297, Von Daniel Ienisch. |
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| Von Daniel Ienisch. | |||||||
| 14. Mai 1787. | |||||||
| Wohlgeborner, | |||||||
| Hochzuehrender Herr Profeßor! | |||||||
| Wäre mir von allen Rükerinnerungen an mein Vaterland, diejenige, | |||||||
| Ew. Wohlgebornen so wohlthätigen Unterricht genoßen zu haben, | |||||||
| nicht schon an und für sich selbst die süßeste und theureste: so müste | |||||||
| sie es mir in meiner gegenwärtigen Lage gewis werden, da ich selten | |||||||
| mich in der Gesellschaft einiger der hiesigen Gelehrten finde, ohne | |||||||
| Ihren Namen erwehnen zu hören. Die Briefe über ihre Philosophie | |||||||
| im Merkur haben die eindringlichste Sensation gemacht, und alle philosophische | |||||||
| Köpfe Teutschlands scheinen seit den Iacobischen Händeln, | |||||||
| den Resultaten, und diesen Briefen, aus ihrer Gleichgültigkeit gegen | |||||||
| alle speculative Philosophie, womit die Mendelsohnschen Morgenstunden | |||||||
| so allgemein belächelt worden, zu der lebhaftesten Theilnehmung für Sie, | |||||||
| mein Herr Prof., aufgewekt zu seyn. Unglaublich ist's, wie wenig | |||||||
| Ansehen und Gewicht Meiners und Feder so wie überall, also selbst | |||||||
| bey Göttingern haben, deren ich, bei ihren Besuchen, die sie hier in | |||||||
| Braunschweig machen, eine beträchtliche Anzahl kennen gelernt: alles | |||||||
| studirt mit dem lebhaftesten Eifer ihre Kritik und so manche Briefe, | |||||||
| die ich darüber aus Göttingen erhalte, zeigen, daß man Sie schäzt, | |||||||
| weil man Sie versteht. Campe, Trapp u. Stuve arbeiten seit mehr | |||||||
| als einem Vierteljahr darüber: u. neulich nur sagte mir der lezte von | |||||||
| ihrer Kritik: alle Theodizeen u. Wolfische Volumina sind Fibeln gegen | |||||||
| sie. Der ein und achzigjährige Ierusalem selbst sagte neulich zu mir: | |||||||
| "ich bin zu alt, um Kanten nach=zuspeculiren: aber sein Aufsaz in | |||||||
| "der Berliner Monatschrift über das Orientiren ist das Echo meines | |||||||
| "Glaubensbekentnißes; die Mendelsohnschen Beweise a priori sind nur | |||||||
| "Nekkereyen des gesunden Menschenverstandes, der durch die Kantsche | |||||||
| "Philosophie sich gerächt sieht." Pokels, der Herausgeber des Magazins | |||||||
| für die Seelenkunde, und Prinzeninformator am Braunschweigschen | |||||||
| Hofe, hatte mit dem jüngsten Prinzen eine Reise nach Königsberg | |||||||
| projettirt, die ihm aber durch einen Zufall traversirt worden: unterdeßen | |||||||
| hat er sich von Göttingen aus, Abschriften von ihrer Moral und | |||||||
| Anthropologie geben laßen, die er dem Prinzen seit einem halben | |||||||
| Iahre vorträgt. Ia bei meiner vierzehntägigen Anwesenheit in Haag | |||||||
| in Holland, fand ich an dem zweyten Tage meines Aufenthalts zufälliger | |||||||
| Weise einen Herrn van Ruyther, der sehr viel teutsche Litteraturkentniße | |||||||
| hatte, und sehr gut französisch sprach, in dem Marschall von | |||||||
| Türenne, einem dortigen Hotel, ihre Critik in der Hand, einsam in | |||||||
| seinem Zimmer sizzen, welchem ich dann höchst willkommen war, und | |||||||
| täglich vier bis fünf Stunden, ohngeachtet meiner ganz ungleichartigen | |||||||
| Beschäftigungen an dem Ort, die ganze zwey Wochen hindurch mit | |||||||
| ihm zubringen muste. Auf gleiche Weise fand ich in Leyden an dem | |||||||
| Lieutenant v. Hogendorp, der eine Woche nachher Doctor der Rechte | |||||||
| wurde, und sich dem Civil widmete, einen lebhaften Partheinehmer | |||||||
| Ihrer Philosophie. Mit dem ersten van Ruyther bin ich seit einem | |||||||
| halben Iahre in einer philosophischen Correspondenz gestanden: und | |||||||
| er hat zwey Bogen meines Manuscripts, worinn ich ihm Auszüge und | |||||||
| Anmerkungen über ihr System der Moral übersandte, ohne mein | |||||||
| Wißen, in die Hager-Verhandelungen, einer periodischen Schrift in Haag, | |||||||
| einrükken laßen, die er mir vor vier Wochen im holländischen Original | |||||||
| übermacht hat. | |||||||
| Ihre Grundlage zur Metaphysik der Sitten, mein Herr Prof., | |||||||
| findt ungleich mehr Widerspruch unter den Gelehrten von meiner Bekantschaft, | |||||||
| als ihre Critik, und man will sich unmöglich überzeugen | |||||||
| laßen, daß die Natur die Moral auf so tiefen Gründen gebaut habe: | |||||||
| indeßen haben mir einige Göttinger mit Enthusiasmus die höchst | |||||||
| neuen und auffallenden Wahrheiten derselben geschrieben: alles sieht | |||||||
| nur mit Sehnsucht ihrer Metaphysik der Sitten entgegen. Ihre Anfangsgründe | |||||||
| der Naturwißenschaft, dieser Probierstein ihres Philosophischen | |||||||
| Systems, ist bis iezt noch wenig gelesen, und die es gelesen, | |||||||
| finden es durchgängig schwerer, als die Critik selbst, das Capitel der | |||||||
| Deduction, ausgenommen. | |||||||
| Ihr Rezensent in der deutschen Bibliothek soll Probst Pistorius | |||||||
| auf Femarn, seyn, der Uebersezzer des Hartley: seine Rezension ihrer | |||||||
| Grundlage etc., ob sie gleich, bei aller scheinbaren Strenge nicht tief | |||||||
| gnug geht, hat, weil die Köpfe in der Moral nun einmal durch | |||||||
| Popularität verstimmt sind, viele Anhänger gefunden. | |||||||
| Ich selbst, mein Herr Prof., bin durch so viele Erinnerungen an | |||||||
| Sie, und ihre Philosophie, da ich, wie Sie sehen, von allen Seiten | |||||||
| her mit ihrer Philosophie gleichsam umringt bin, aus meinem lethargischen | |||||||
| Schlummer, in welchen ich in Königsberg die lezten anderthalb | |||||||
| Iahre über ihr System, unter manchen ganz ungleichartigen Beschäftigungen, | |||||||
| bey aller Vorliebe u. Überzeugung von Ihrem System, gerathen | |||||||
| war, aufgewacht: denn was konte ich anders? | |||||||
| Mit kommendem Monat Iulius mache ich eine zweyte Reise nach | |||||||
| Holland mit meinem braungelben Malayen, und streife zugleich in das | |||||||
| französische Flandern seitab, wo ich demselben einen Gesellschafter, | |||||||
| einen Grafen de la Martiniêre hole. | |||||||
| ich hoffe mit dem Michaelsemester in Göttingen zu seyn, um unter | |||||||
| Heyne und Schlözzer zu studiren. | |||||||
| Ich empfehle mich Ihrem gütigsten Andenken, und habe die Ehre, | |||||||
| mich zu nennen | |||||||
| Ew. Wohlgeb. | |||||||
| Braunschweig | meines Hochzuehr. HErrn Profeßors | ||||||
| den 14 May 1787. | verpflichtetster | ||||||
| D. Ienisch. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 485 ] [ Brief 296 ] [ Brief 298 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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