Kant: Briefwechsel, Brief 236, An Iohann Erich Biester.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Erich Biester.      
           
  31. Dec. 1784.      
           
  Beiliegende zwey Stücke überliefere ich würdigster Freund zu beliebigem      
  Gebrauche. Gelegentlich wünschte ich wohl zu vernehmen,      
  nicht sowohl was das Publikum daran beifallswürdig, sondern noch      
  zu desideriren finden möchte. Denn in dergleichen Aufsätzen habe ich      
  zwar mein Thema jederzeit vollständig durchgedacht, aber in der Ausführung      
  habe ich immer mit einem gewißen Hange zur Weitläuftigkeit      
  zu kämpfen, oder ich bin so zu sagen durch die Menge der Dinge,      
  die sich zur vollständigen Entwicklung darbieten, so belästigt, daß über      
  dem Weglassen manches Benöthigten die Vollendung der Idee, die      
  ich doch in meiner Gewalt habe, zu fehlen scheint. Man versteht sich      
  alsdann wohl selbst hinreichend, aber man wird Andern nicht verständlich      
  und befriedigend genug. Der Wink eines einsehenden und      
  aufrichtigen Freundes kann hiebey nützlich werden. Auch möchte ich      
  mannigmal wohl wissen, welche Fragen das Publikum wohl am      
  liebsten aufgelöset sehen möchte. Nächstens werde ich in zwey von      
  den bisherigen verschiedenen Felder ausschweifen, um den Geschmack      
  des gemeinen Wesens auszuforschen. Da ich beständig über Ideen      
  brüte, so fehlt's mir nicht an Vorrath, wohl aber an einem bestimmten      
  Grunde der Auswahl, ingleichen an Zeit, mich abgebrochenen Beschäftigungen      
  zu widmen; da ich mit einem ziemlich ausgedehnten      
  Entwurfe, den ich gern vor dem herannahenden Unvermögen des Alters      
  ausgeführt haben möchte, beschäftigt bin.      
           
           
  Meine moralische Abhandlung war etwa 20 Tage vor Michael      
  in Halle bey Grunert; aber er schrieb mir, daß er sie auf der Messe      
  nicht fertig schaffen könnte, und so muß sie bis Ostern liegen bleiben;      
  da ich denn von der Erlaubniß, die Sie mir geben, Gebrauch machen      
  werde.      
           
  Ich bin mit der vollkommensten Hochachtung      
           
    Ihr      
  Königsberg ergebenster      
  d. 31. Dec. 1784. I Kant.      
           
           
           
     

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