Kant: AA XII, Öffentl. Erklärungen 1797 , Seite 369

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 bei ihrem ersten Ausbruch zu dämpfen und alle weitre Vergrößerung und      
  02 Verbreitung derselben zu hindern, unaufgefordert sagest welcher von Ihnen      
  03 Deinen Sinn recht gefaßt hat, und welcher nicht.      
           
  04 So spricht gewiß der liebevolle Mensch mit seinem Mitmenschen; und dieser,      
  05 wenn er gut und pflichtachtend ist, schöpft aus der offenen Sprache der redlichen      
  06 Bruderliebe so wenig einen Verdacht des Meuchelmordes, *) daß er vielmehr seinem      
  07 Bruder für dessen aufrichtige schuldige Ermahnung herzlich dankt, und sich zu      
  08 bessern sucht.      
           
  09 Daß Sie aber, mein lieber Kant, Sich mit mir weder in einen Privat= noch      
  10 öffentlichen Briefwechsel über Ihre Kritik der r. V. und über Ihre ganze Philosophie      
  11 einlassen wollen: das ist mir außerordentlich leid. Ich nahm es stets für      
  12 Ihre ernstliche redliche Gesinnung an, wenn Sie in Ihren Schriften mehrmal      
  13 wünschten daß Ihre Sätze von Grund aus untersucht werden mögten, und wenn      
  14 Sie den Vorschlag thaten Ihr Gebäude der Vernunftkritik nicht etwa nur in einem      
  15 oder dem andern Punkte, sondern von seiner ganzen Grundlage an Stück      
  16 vor Stück zu prüfen, um dadurch ein festes philosophisches Lehrgebäude, es sei      
  17 das Ihrige oder ein anderes, zum wahren Besten der Welt zu Stande zu bringen.      
  18 Nie war es meine Meinung, mit Ihnen einen Kampfplatz zu betreten, oder einen      
  19 Prozeß zu führen. Kämpfen und Prozessiren sind meine Sache nicht, wo es auf      
  20 Belehren oder belehrt werden, auf Nachdenken, Erforschen, Untersuchen, Prüfen,      
  21 Zweifel mittheilen und Zweifel lösen, ankommt. Auch mag ich zu diesen Absichten      
  22 meine jüngern Mitbrüder zum Kämpfen weder reizen noch ermuntern. Ich wollte      
  23 nur mit Ihnen, mein Wehrter, oder mit Ihrem besten Schüler oder Anhänger      
  24 über Ihr philosophisches System friedliche und der Menschheit würdige Verhandlungen      
  25 anstellen; ich wollte dies für die Wahrheit, die sich nicht auf Kampfplätzen      
  26 sondern nur in dem stillen ihr geheiligten Tempel der Liebe und des Friedens      
  27 finden läßt.      
           
  28 Ich werde also nächstens an den Hrn. Hofprediger Schulz schreiben, ihm      
  29 meine Gesinnung in Ansehung einer ausführlichen und gründlichen Prüfung Ihres      
  30 Systems mittheilen, und mir dagegen die Eröfnung der seinigen ausbitten. Um      
  31 die Wahrheiten die Sie selbst für so außerordentlich wichtig halten, weiter aufzuklären,      
  32 und wo möglich zu befestigen, oder ein anderes richtigers und unwankelbareres      
  33 System der Philosophie gründen zu helfen, wird der gelehrte Mann, wie      
           
    *) Dies bezieht sich auf eine Stelle meiner Antwort an Prof. Schlettwein, vom 19 Mai 1797, die so lautet: "Sie können es, sagen Sie, mit der wahren Rechtschaffenheit nicht reimen, daß ich nicht bestimmt heraussage, welcher unter den mir anhängigen Schriftstellern meinen Sinn wirklich getroffen hat. Die Ursache ist, weil mich noch Niemand darum öffentlich befragt hat. Aber daß Iemand einem Andern Mangel an Rechtschaffenheit vorrückt, und doch in einem Athem ihn mit "mein Lieber" anredet: das ist ein Bittersüß ( dulcamara , ein Giftkraut), welches wegen der Absicht auf Meuchelmord verdächtig macht." I. Kant      
           
     

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