Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 096

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Sie erweisen mir die Freundschaft, sich nach meinem Sein und      
  02 meiner Lage zu erkundigen. Bis jetzt ist alles mit mir noch beim      
  03 Alten; ich habe den Unterricht noch bei der Prinzessin und den Prinzen      
  04 und lese Collegia; vergangenen Winter habe ich über meine Darstellung      
  05 Ihres Systems, Logik und Aesthetik, und diesen Sommer Geometrie      
  06 gelesen; künftigen Winter denke ich Moral und mathematische und      
  07 physikalische Geographie zu lesen, und in der Michaelismesse erscheint      
  08 von mir eine Logik für Schulen, die ich Ihnen zu überschicken, die      
  09 Ehre haben werde. Da aber künftigen Mai die Prinzessin sich mit      
  10 dem Erbprinzen von Hessenkassel vermählt, wodurch ich 360 rthlr.      
  11 jährlicher Einkünfte verliehre, mir also für den Unterricht der Prinzen      
  12 nur 240rthlr. übrig bleiben, so muß ich darauf bedacht sein, meine      
  13 Lage zu ändern. Anfänglich war ich entschlossen, mir durch die      
  14 Prinzessin mein Gehalt als Pension vom König zu erbitten, eine      
  15 Bitte, die freilich nicht ungerecht sein würde, da ich 8 Iahr ihr      
  16 Unterricht ertheilt habe, allein ich habe nach reiferer Überlegung diesen      
  17 Plan fahren laßen, theils weil ich noch zu jung bin, um Pension zu      
  18 genießen, theils weil mir eine Pension nicht sicher genug scheint, da      
  19 man leicht einen Vorwand finden kann, weshalb ich nicht mehr      
  20 würdig wäre, die Pension zu genießen. Ich habe daher den Entschluß      
  21 gefaßt, mir vom Könige die Anwartschaft auf eine Stelle auszubitten,      
  22 die mich nährt, die mir aber doch auch die nöthige Zeit      
  23 übrig läßt, den Wissenschaften obzuliegen, und ich gehe jetzt damit      
  24 um, mir eine solche Stelle zu suchen, damit wenn der König diesen      
  25 Winter nach Berlin kömmt, die Prinzessin sich diese Stelle für mich      
  26 ausbitten kann. Da ich weiß, daß Sie an meinen Schicksalen Theil      
  27 nehmen, wofür ich Ihnen den herzlichsten Dank sage, so werde ich      
  28 Ihnen so bald mein Schicksal entschieden ist, Nachricht davon ertheilen.      
  29 Sollte der König, wider alles Vermuthen, meine Bitte abschlagen, so      
  30 werde ich Berlin verlaßen und mit einem reichen, vernünftigen Manne      
  31 eine Reise nach Frankreich, Italien, die Schweitz und vielleicht auch nach      
  32 England machen.      
           
  33 Reisende, die vor kurzem aus Königsberg kamen, haben mir      
  34 erfreuliche Nachrichten von Ihrem Wohlbefinden gegeben und Sie      
  35 werden es mir glauben, daß diese Nachrichten mich sehr froh gemacht      
  36 haben. Auch die Ankündigung eines Naturrechts von Ihnen hat mir      
  37 unglaubliche Freude gemacht und ich sehe der Erscheinung Ihres Werks      
           
     

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