Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 464

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 werde.*) Was das andere anbetrifft, daß die Kinder zu allen Zeiten sollen      
  02 essen können, so kann man hier wohl nicht die Thiere zum Beispiele anführen.      
  03 Denn weil z. E. alle Gras fressende Thiere wenig Nahrhaftes      
  04 zu sich nehmen, so ist das Fressen bei ihnen ein ordentliches Geschäft. Es      
  05 ist aber dem Menschen sehr zuträglich, wenn er immer zu einer bestimmten      
  06 Zeit ißt. So wollen manche Eltern, daß ihre Kinder große Kälte, Gestank,      
  07 alles und jedes Geräusche und dergl. sollen ertragen können. Dies ist      
  08 aber gar nicht nöthig, wenn sie sich nur nichts angewöhnen. Und dazu      
  09 ist es sehr dienlich, daß man die Kinder in verschiedene Zustände versetze.      
           
  10 Ein hartes Lager ist viel gesünder, als ein weiches. Überhaupt dient      
  11 eine harte Erziehung sehr zur Stärkung des Körpers. Durch harte Erziehung      
  12 verstehen wir aber blos Verhinderung der Gemächlichkeit. An      
  13 merkwürdigen Beispielen zur Bestätigung dieser Behauptung mangelt es      
  14 nicht, nur daß man sie nicht beachtet, oder, richtiger gesagt, nicht beachten      
  15 will.      
           
  16 Was die Gemüthsbildung betrifft, die man wirklich auch in gewisser      
  17 Weise physisch nennen kann, so ist hauptsächlich zu merken, daß die Disciplin      
  18 nicht sklavisch sei, sondern das Kind muß immer seine Freiheit fühlen,      
  19 doch so, daß es nicht die Freiheit Anderer hindere; es muß daher Widerstand      
  20 finden. Manche Eltern schlagen ihren Kindern Alles ab, um dadurch      
  21 die Geduld der Kinder zu exerciren, und fordern demnach mehr Geduld      
  22 von den Kindern, als sie deren selbst haben. Dies ist aber grausam. Man      
  23 gebe dem Kinde, soviel ihm dient, und nachher sage man ihm: du hast      
  24 genug! Aber daß dies dann auch unwiderruflich sei, ist schlechterdings      
  25 nöthig. Man merke nur nicht auf das Schreien der Kinder und willfahre      
  26 ihnen nur nicht, wenn sie etwas durch Geschrei erzwingen wollen: was sie      
  27 aber mit Freundlichkeit bitten, das gebe man ihnen, wenn es ihnen dient.      
  28 Das Kind wird dadurch auch gewöhnt, freimüthig zu sein, und da es keinem      
  29 durch sein Schreien lästig fällt, so ist auch hinwieder gegen dasselbe jeder      
  30 freundlich. Die Vorsehung scheint wahrlich den Kindern freundliche      
  31 Mienen gegeben zu haben, damit sie die Leute zu ihrem Vortheile einnehmen      
           
    *) Diese Gewohnheit hat unfehlbar für den Menschen als Maschine ihr großes Gutes, aber wir müssen nicht vergessen, daß zuweilen auch Ausnahmen nöthig sind. Schon in Beziehung auf das physische Leben haben diese ihren Nutzen, wie Hufeland sehr schön dargethan hat, aber gesetzt auch, wir lebten bei strenger Gewohnheit länger: so dürfte dieses längere Leben am Ende doch nur ein Leben der Ordnung wegen, d. h. ein bloßes Vegetiren, zu sein scheinen. A. d. H.      
           
     

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