Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 462

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Man setzt ihnen gewöhnlich die sogenannten Butzmützen auf, die so weit      
  02 vorstehen, daß das Kind nie auf das Gesicht fallen kann. Das ist aber      
  03 eben eine negative Erziehung, wenn man künstliche Instrumente anwendet,      
  04 da, wo das Kind natürliche hat. Hier sind die natürlichen Werkzeuge die      
  05 Hände, die sich das Kind bei dem Fallen schon vorhalten wird. Je      
  06 mehrere künstliche Werkzeuge man gebraucht, desto abhängiger wird der      
  07 Mensch von Instrumenten.      
           
  08 Überhaupt wäre es besser, wenn man im Anfange weniger Instrumente      
  09 gebrauchte und die Kinder mehr von selbst lernen ließe, sie möchten      
  10 dann manches viel gründlicher lernen. So wäre es z. B. wohl möglich,      
  11 daß das Kind von selbst schreiben lernte. Denn Jemand hat es doch einmal      
  12 erfunden, und die Erfindung ist auch nicht so sehr groß. Man dürfte nur      
  13 z. E., wenn das Kind Brod will, sagen: Kannst du es auch wohl malen?      
  14 Das Kind würde dann eine ovale Figur malen. Man dürfte ihm dann      
  15 nur sagen, daß man nun doch nicht wisse, ob es Brod oder einen      
  16 Stein vorstellen solle: so würde es nachher versuchen, das B zu bezeichnen      
  17 usw., und so würde sich das Kind mit der Zeit sein eignes      
  18 A B C erfinden, das es nachher nur mit andern Zeichen vertauschen      
  19 dürfte.*)      
           
  20 Es giebt gewisse Gebrechen, mit denen einige Kinder auf die Welt      
  21 kommen. Hat man denn nicht Mittel, diese fehlerhafte, gleichsam verpfuschte      
  22 Gestalt wieder zu verbessern? Es ist durch die Bemühung vieler und      
  23 kenntnißreicher Schriftsteller ausgemacht, daß Schnürbrüste hier nichts      
  24 helfen, sondern das Übel nur noch ärger machen, indem sie den Umlauf      
  25 des Blutes und der Säfte, so wie die höchst nöthige Ausdehnung der      
  26 äußern und innerlichen Theile des Körpers hindern. Wenn das Kind      
  27 frei gelassen wird, so exercirt es noch seinen Leib, und ein Mensch, der      
  28 eine Schnürbrust trägt, ist, wenn er sie ablegt, viel schwächer als einer, der      
  29 sie nie angelegt hat. Man könnte denen, die schief geboren sind, vielleicht      
           
    *) Man versteht, was große Männer sagen, nur zu leicht falsch und oft mit Vorsatz. Das ist besonders Kant begegnet. Und daher bemerke ich hier nur, daß er hier keineswegs will, man solle jedes Kind sich sein eignes Alphabet erst selbst erfinden lassen, sondern es soll dadurch nur angedeutet werden, wie bei dem Lesen und Schreiben Kinder wirklich und zwar analytisch verfahren, ohne sich dessen selbst sogar in höhern Jahren bewußt zu sein oder zu werden, und wie sie unter gewissen Umständen dabei verfahren würden. Übrigens wünschte ich, hier nicht erst an Pestalozzi und Olivier erinnern zu dürfen. A. d. H.      
           
     

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