Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 459

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Überhaupt muß man merken, daß die erste Erziehung nur negativ      
  02 sein müsse, d. h. daß man nicht über die Vorsorge der Natur noch eine neue      
  03 hinzuthun müsse, sondern die Natur nur nicht stören dürfe. Ist je die Kunst      
  04 in der Erziehung erlaubt, so ist es allein die der Abhärtung. - Auch daher      
  05 ist denn das Windeln zu verwerfen. Wenn man indessen einige Vorsicht beobachten      
  06 will, so ist eine Art von Schachtel, die oben mit Riemen bezogen      
  07 ist, hiezu das Zweckmäßigste. Die Italiener gebrauchen sie und nennen sie      
  08 arcuccio . Das Kind bleibt immer in dieser Schachtel und wird auch in      
  09 ihr zum Säugen angelegt. Dadurch wird selbst verhütet, daß die Mutter,      
  10 wenn sie auch des Nachts während des Säugens einschläft, das Kind doch      
  11 nicht todt drücken kann.*) Bei uns kommen aber auf diese Art viele Kinder      
  12 ums Leben. Diese Vorsorge ist also besser als das Windeln, denn die      
  13 Kinder haben hier doch mehrere Freiheit, und das Verbiegen wird verhütet;      
  14 da hingegen die Kinder oft durch das Windeln selbst schief werden.      
           
  15 Eine andere Gewohnheit bei der ersten Erziehung ist das Wiegen.      
  16 Die leichteste Art desselben ist die, die einige Bauern haben. Sie hängen      
  17 nämlich die Wiege an einem Seile an den Balken, dürfen also nur anstoßen,      
  18 so schaukelt die Wiege von selbst von einer Seite zur andern. Das      
  19 Wiegen taugt aber überhaupt nicht. Denn das Hin= und Herschaukeln      
  20 ist dem Kinde schädlich. Man sieht es ja selbst an großen Leuten, da      
  21 das Schaukeln eine Bewegung zum Erbrechen und einen Schwindel hervorbringt.      
  22 Man will das Kind dadurch betäuben, daß es nicht schreie.      
  23 Das Schreien ist aber den Kindern heilsam. Sobald sie aus dem Mutterleibe      
  24 kommen, wo sie keine Luft genossen haben, athmen sie die erste Luft      
  25 ein. Der dadurch veränderte Gang des Blutes bringt in ihnen eine      
  26 schmerzhafte Empfindung hervor. Durch das Schreien aber entfaltet das      
  27 Kind die innern Bestandtheile und Canäle seines Körpers desto mehr.      
  28 Daß man dem Kinde, wenn es schreit, gleich zu Hülfe kommt, ihm etwas      
  29 vorsingt, wie dies die Gewohnheit der Amme ist, oder dergl.: das ist sehr      
  30 schädlich. Dies ist gewöhnlich das erste Verderben des Kindes, denn      
  31 wenn es sieht, daß auf seinen Ruf Alles herbeikommt: so wiederholt es      
  32 sein Schreien öfter.      
           
  33 Man kann wohl mit Wahrheit sagen, daß die Kinder der gemeinen      
  34 Leute viel mehr verzogen werden, als die Kinder der Vornehmen. Denn      
           
    *) Irre ich nicht sehr, so findet man in den ältern Ausgaben von Fausts Gesundheitskatechism, der besonders nach der letzten Auflage in jedem Hause sein sollte, eine Abbildung dieses Gestelles. A. d. H.      
           
     

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