Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 079

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gegen die Gelehrsamkeit, insbesondre in Ansehung solcher      
  02 Speculationen, wo die Begriffe nicht sinnlich gemacht werden können,      
  03 und deren Fundamente schwankend sind, wie z. B. in der Metaphysik.      
  04 Da er aber doch glaubt, der Schlüssel zur Gewißheit über      
  05 gewisse Gegenstände müsse irgendwo zu finden sein: so sucht er ihn      
  06 nun beim gemeinen Verstande, nachdem er ihn so lange vergebens      
  07 auf dem Wege des wissenschaftlichen Nachforschens gesucht hatte.      
           
  08 Allein diese Hoffnung ist sehr trüglich, denn wenn das cultivirte      
  09 Vernunftvermögen in Absicht auf die Erkenntniß gewisser Dinge      
  10 nichts ausrichten kann, so wird es das uncultivirte sicherlich eben so      
  11 wenig. In der Metaphysik ist die Berufung auf die Aussprüche des      
  12 gemeinen Verstandes überall ganz unzulässig, weil hier kein Fall in      
  13 concreto kann dargestellt werden. Mit der Moral hat es aber freilich      
  14 eine andre Bewandniß. Nicht nur können in der Moral alle      
  15 Regeln in concreto gegeben werden, sondern die praktische Vernunft      
  16 offenbart sich auch überhaupt klärer und richtiger durch das Organ      
  17 des gemeinen als durch das des speculativen Verstandesgebrauchs.      
  18 Daher der gemeine Verstand über Sachen der Sittlichkeit und Pflicht      
  19 oft richtiger urtheilt als der speculative.      
           
  20 c) Das Vorurtheil des Ansehens des Zeitalters. Hier      
  21 ist das Vorurtheil des Alterthums eines der bedeutendsten. Wir      
  22 haben zwar allerdings Grund vom Alterthum günstig zu urtheilen,      
  23 aber das ist nur ein Grund zu einer gemäßigten Achtung, deren      
  24 Grenzen wir nur zu oft dadurch überschreiten, daß wir die Alten zu      
  25 Schatzmeistern der Erkenntnisse und Wissenschaften machen, den      
  26 relativen Werth ihrer Schriften zu einem absoluten erheben und      
  27 ihrer Leitung uns blindlings anvertrauen. Die Alten so übermäßig      
  28 schätzen, heißt: den Verstand in seine Kinderjahre zurückführen und      
  29 den Gebrauch des selbsteigenen Talentes vernachlässigen. Auch würden      
  30 wir uns sehr irren, wenn wir glaubten, daß Alle aus dem Alterthum      
  31 so classisch geschrieben hätten, wie die, deren Schriften bis auf      
  32 uns gekommen sind. Da nämlich die Zeit alles sichtet und nur das      
  33 sich erhält, was einen innern Werth hat: so dürfen wir nicht ohne      
  34 Grund annehmen, daß wir nur die besten Schriften der Alten besitzen.      
           
  36 Es giebt mehrere Ursachen, durch die das Vorurtheil des      
  37 Alterthums erzeugt und unterhalten wird.      
           
           
     

[ Seite 078 ] [ Seite 080 ] [ Inhaltsverzeichnis ]