Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 078 |
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| 01 | muß, da wir nicht alles selbst erfahren und mit unserm eigenen | ||||||
| 02 | Verstande umfassen können, das Ansehen der Person die Grundlage | ||||||
| 03 | unsrer Urtheile sein. Wenn wir aber das Ansehen Anderer zum | ||||||
| 04 | Grunde unsers Fürwahrhaltens in Absicht auf Vernunfterkenntnisse | ||||||
| 05 | machen: so nehmen wir diese Erkenntnisse auf bloßes Vorurtheil an. | ||||||
| 06 | Denn Vernunftwahrheiten gelten anonymisch; hier ist nicht die | ||||||
| 07 | Frage: Wer hat es gesagt, sondern Was hat er gesagt? Es liegt | ||||||
| 08 | nichts daran, ob ein Erkenntniß von edler Herkunft ist; aber dennoch | ||||||
| 09 | ist der Hang zum Ansehen großer Männer sehr gemein, theils | ||||||
| 10 | wegen der Eingeschränktheit eigner Einsicht, theils aus Begierde, | ||||||
| 11 | dem nachzuahmen, was uns als groß beschrieben wird. Hierzu | ||||||
| 12 | kommt noch: daß das Ansehen der Person dazu dient, unsrer Eitelkeit | ||||||
| 13 | auf eine indirecte Weise zu schmeicheln. So wie nämlich die | ||||||
| 14 | Unterthanen eines mächtigen Despoten stolz darauf sind, daß sie nur | ||||||
| 15 | alle gleich von ihm behandelt werden, indem der Geringste mit dem | ||||||
| 16 | Vornehmsten in so fern sich gleich dünken kann, als sie beide gegen | ||||||
| 17 | die unumschränkte Macht ihres Beherrschers nichts sind, so beurtheilen | ||||||
| 18 | sich auch die Verehrer eines großen Mannes als gleich, sofern | ||||||
| 19 | die Vorzüge, die sie unter einander selbst haben mögen, gegen | ||||||
| 20 | die Verdienste des großen Mannes betrachtet, für unbedeutend zu | ||||||
| 21 | achten sind. Die hochgepriesenen großen Männer thun daher dem | ||||||
| 22 | Hange zum Vorurtheile des Ansehens der Person aus mehr als | ||||||
| 23 | einem Grunde keinen geringen Vorschub. | ||||||
| 24 | b) Das Vorurtheil des Ansehens der Menge. Zu diesem | ||||||
| 25 | Vorurtheil ist hauptsächlich der Pöbel geneigt. Denn da er | ||||||
| 26 | die Verdienste, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Person nicht zu | ||||||
| 27 | beurtheilen vermag: so hält er sich lieber an das Urtheil der Menge, | ||||||
| 28 | unter der Voraussetzung, daß das, was Alle sagen, wohl wahr sein | ||||||
| 29 | müsse. Indessen bezieht sich dieses Vorurtheil bei ihm nur auf historische | ||||||
| 30 | Dinge, in Religionssachen, bei denen er selbst interessirt ist, | ||||||
| 31 | verläßt er sich auf das Urtheil der Gelehrten. | ||||||
| 32 | Es ist überhaupt merkwürdig, daß der Unwissende ein Vorurtheil | ||||||
| 33 | für die Gelehrsamkeit hat und der Gelehrte dagegen wiederum | ||||||
| 34 | ein Vorurtheil für den gemeinen Verstand. | ||||||
| 35 | Wenn dem Gelehrten, nachdem er den Kreis der Wissenschaften | ||||||
| 36 | schon ziemlich durchlaufen ist, alle seine Bemühungen nicht die gehörige | ||||||
| 37 | Genugthuung verschaffen: so bekommt er zuletzt ein Mißtrauen | ||||||
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