Kant: AA VIII, Über ein vermeintes Recht ... , Seite 426

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Zuerst ist anzumerken, daß der Ausdruck: ein Recht auf die Wahrheit      
  02 haben, ein Wort ohne Sinn ist. Man muß vielmehr sagen: der Mensch      
  03 habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit ( veracitas ), d. i. auf      
  04 die subjective Wahrheit in seiner Person. Denn objectiv auf eine Wahrheit      
  05 ein Recht haben, würde so viel sagen als: es komme wie überhaupt      
  06 beim Mein und Dein auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz wahr      
  07 oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde.      
           
  08 Nun ist die erste Frage: ob der Mensch in Fällen, wo er einer Beantwortung      
  09 mit ja oder nein nicht ausweichen kann, die Befugniß      
  10 (das Recht) habe unwahrhaft zu sein. Die zweite Frage ist: ob er      
  11 nicht gar verbunden sei in einer gewissen Aussage, wozu ihn ein ungerechter      
  12 Zwang nöthigt, unwahrhaft zu sein, um eine ihn bedrohende Missethat      
  13 an sich oder einem anderen zu verhüten.      
           
  14 Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale      
  15 Pflicht des Menschen gegen jeden*), es mag ihm oder einem andern      
  16 daraus auch noch so großer Nachtheil erwachsen; und ob ich zwar dem,      
  17 welcher mich ungerechterweise zur Aussage nöthigt, nicht Unrecht thue,      
  18 wenn ich sie verfälsche, so thue ich doch durch eine solche Verfälschung, die      
  19 darum auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden      
  20 kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d. i. ich      
  21 mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Declarationen) überhaupt keinen      
  22 Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet      
  23 werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das      
  24 der Menschheit überhaupt zugefügt wird.      
           
  25 Die Lüge also, bloß als vorsetzlich unwahre Declaration gegen einen      
  26 andern Menschen definirt, bedarf nicht des Zusatzes, daß sie einem anderen      
  27 schaden müsse; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen ( mendacium      
  28 est falsiloquium in praeiudicium alterius ). Denn sie schadet      
  29 jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch      
  30 der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.      
  31 Diese gutmüthige Lüge kann aber auch durch einen Zufall ( casus )      
  32 strafbar werden nach bürgerlichen Gesetzen; was aber bloß durch den      
           
    *) Ich mag hier nicht den Grundsatz bis dahin schärfen, zu sagen: "Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst." Denn dieser gehört zur Ethik; hier aber ist von einer Rechtspflicht die Rede. - Die Tugendlehre sieht in jener Übertretung nur auf die Nichtswürdigkeit, deren Vorwurf der Lügner sich selbst zuzieht.      
           
     

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