Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 391

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Plato, eben so gut Mathematiker als Philosoph, bewunderte an den      
  02 Eigenschaften gewisser geometrischer Figuren, z. B. des Zirkels, eine Art      
  03 von Zweckmäßigkeit, d. i. Tauglichkeit zur Auflösung einer Mannigfaltigkeit      
  04 von Problemen, oder Mannigfaltigkeit der Auflösung eines und      
  05 desselben Problems (wie etwa in der Lehre von geometrischen Örtern) aus      
  06 einem Princip, gleich als ob die Erfordernisse zur Construction gewisser      
  07 Größenbegriffe absichtlich in sie gelegt seien, obgleich sie als nothwendig      
  08 a priori eingesehen und bewiesen werden können. Zweckmäßigkeit ist aber      
  09 nur durch Beziehung des Gegenstandes auf einen Verstand als Ursache      
  10 denkbar.      
           
  11 Da wir nun mit unserm Verstande, als einem Erkenntnißvermögen      
  12 durch Begriffe, das Erkenntniß nicht über unsern Begriff a priori erweitern      
  13 können (welches doch in der Mathematik wirklich geschieht): so      
  14 mußte Plato Anschauungen a priori für uns Menschen annehmen,      
  15 welche aber nicht in unserm Verstande ihren ersten Ursprung hätten      
  16 (denn unser Verstand ist nicht ein Anschauungs=, nur ein discursives oder      
  17 Denkungsvermögen), sondern in einem solchen, der zugleich der Urgrund      
  18 aller Dinge wäre, d. i. dem göttlichen Verstande, welche Anschauungen      
  19 direct dann Urbilder (Ideen) genannt zu werden verdienten. Unsere      
  20 Anschauung aber dieser göttlichen Ideen (denn eine Anschauung a priori      
  21 mußten wir doch haben, wenn wir uns das Vermögen synthetischer Sätze      
  22 a priori in der reinen Mathematik begreiflich machen wollten) sei uns nur      
  23 indirect, als der Nachbilder ( ectypa ), gleichsam der Schattenbilder aller      
  24 Dinge, die wir a priori synthetisch erkennen, mit unserer Geburt, die aber      
  25 zugleich eine Verdunklung dieser Ideen durch Vergessenheit ihres Ursprungs      
  26 bei sich geführt habe, zu Theil geworden: als eine Folge davon,      
  27 daß unser Geist (nun Seele genannt) in einen Körper gestoßen worden,      
  28 von dessen Fesseln sich allmählich loszumachen, jetzt das edle Geschäft der      
  29 Philosophie sein müsse*).      
           
           
    *) Plato verfährt mit allen diesen Schlüssen wenigstens consequent. Ihm schwebte ohne Zweifel, obzwar auf eine dunkle Art, die Frage vor, die nur seit Kurzem deutlich zur Sprache gekommen: "Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?" Hätte er damals auf das rathen können, was sich allererst späterhin vorgefunden hat: daß es allerdings Anschauungen a priori, aber nicht des menschlichen Verstandes, sondern sinnliche (unter dem Namen des Raumes und der Zeit) gäbe, daß daher alle Gegenstände der Sinne von uns bloß als Erscheinungen und selbst ihre Formen, die wir in der Mathematik a priori bestimmen können, nicht die der Dinge an sich selbst, sondern (subjective) unserer Sinnlichkeit [Seitenumbruch] sind, die also für alle Gegenstände möglicher Erfahrung, aber auch nicht einen Schritt weiter gelten: so würde er die reine Anschauung (deren er bedurfte, um sich das synthetische Erkenntniß a priori begreiflich zu machen) nicht im göttlichen Verstande und dessen Urbildern aller Wesen als selbstständiger Objecte gesucht und so zur Schwärmerei die Fackel angesteckt haben. - Denn das sah er wohl ein: daß, wenn er in der Anschauung, die der Geometrie zum Grunde liegt, das Object an sich selbst empirisch anschauen zu können behaupten wollte, das geometrische Urtheil und die ganze Mathematik bloße Erfahrungswissenschaft sein würde; welches der Nothwendigkeit widerspricht, die (neben der Anschaulichkeit) gerade das ist, was ihr einen so hohen Rang unter allen Wissenschaften zusichert.      
           
     

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