Kant: AA VIII, Das Ende aller ... , Seite 339

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Lebensmaxime, sondern das Gesetz hier droht: welches, als unwandelbar      
  02 in der Natur der Dinge liegende Ordnung, selbst nicht der Willkür des      
  03 Schöpfers, die Folge derselben so oder anders zu entscheiden, überlassen ist.      
           
  04 Wenn das Christenthum Belohnungen verheißt (z. B. "Seid fröhlich      
  05 und getrost, es wird Euch im Himmel alles wohl vergolten werden"):      
  06 so muß das nach der liberalen Denkungsart nicht so ausgelegt werden,      
  07 als wäre es ein Angebot, um dadurch den Menschen zum guten Lebenswandel      
  08 gleichsam zu dingen: denn da würde das Christenthum wiederum      
  09 für sich selbst nicht liebenswürdig sein. Nur ein Ansinnen solcher Handlungen,      
  10 die aus uneigennützigen Beweggründen entspringen, kann gegen      
  11 den, welcher das Ansinnen thut, dem Menschen Achtung einflößen; ohne      
  12 Achtung aber giebt es keine wahre Liebe. Also muß man jener Verheißung      
  13 nicht den Sinn beilegen, als sollten die Belohnungen für die Triebfedern der      
  14 Handlungen genommen werden. Die Liebe, wodurch eine liberale Denkart      
  15 an einen Wohlthäter gefesselt wird, richtet sich nicht nach dem Guten, was      
  16 der Bedürftige empfängt, sondern bloß nach der Gütigkeit des Willens      
  17 dessen, der geneigt ist es zu ertheilen: sollte er auch etwa nicht dazu vermögend      
  18 sein, oder durch andre Beweggründe, welche die Rücksicht auf das allgemeine      
  19 Weltbeste mit sich bringt, an der Ausführung gehindert werden.      
           
  20 Das ist die moralische Liebenswürdigkeit, welche das Christenthum      
  21 bei sich führt, die durch manchen äußerlich ihm beigefügten Zwang bei      
  22 dem öftern Wechsel der Meinungen immer noch durchgeschimmert und es      
  23 gegen die Abneigung erhalten hat, die es sonst hätte treffen müssen, und      
  24 welche (was merkwürdig ist) zur Zeit der größten Aufklärung, die je unter      
  25 Menschen war, sich immer in einem nur desto hellern Lichte zeigt.      
           
  26 Sollte es mit dem Christenthum einmal dahin kommen, daß es aufhörte      
  27 liebenswürdig zu sein (welches sich wohl zutragen könnte, wenn es statt seines      
  28 sanften Geistes mit gebieterischer Autorität bewaffnet würde): so müßte, weil      
  29 in moralischen Dingen keine Neutralität (noch weniger Coalition entgegengesetzter      
  30 Principien) Statt findet, eine Abneigung und Widersetzlichkeit gegen      
  31 dasselbe die herrschende Denkart der Menschen werden; und der Antichrist,      
  32 der ohnehin für den Vorläufer des jüngsten Tages gehalten wird, würde      
  33 sein (vermuthlich auf Furcht und Eigennutz gegründetes), obzwar kurzes      
  34 Regiment anfangen: alsdann aber, weil das Christenthum allgemeine      
  35 Weltreligion zu sein zwar bestimmt, aber es zu werden von dem Schicksal      
  36 nicht begünstigt sein würde, das (verkehrte) Ende aller Dinge in moralischer      
  37 Rücksicht eintreten.      
           
           
     

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