Kant: AA VIII, Das Ende aller ... , Seite 330

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gelegenheit, wo ihm der Zufall glücklicherweise viele Versuchungen ersparte,      
  02 die einen andern trafen; wenn er dies alles von seinem wirklichen      
  03 Charakter absonderte (wie er das denn, um diesen gehörig zu würdigen,      
  04 nothwendig abrechnen muß, weil er es als Glücksgeschenk seinem eignen      
  05 Verdienst nicht zuschreiben kann); wer will dann entscheiden, sage ich, ob      
  06 vor dem allsehenden Auge eines Weltrichters ein Mensch seinem innern      
  07 moralischen Werthe nach überall noch irgend einen Vorzug vor dem andern      
  08 habe, und es so vielleicht nicht ein ungereimter Eigendünkel sein dürfte,      
  09 bei dieser oberflächlichen Selbsterkenntniß zu seinem Vortheil über den      
  10 moralischen Werth (und das verdiente Schicksal) seiner selbst sowohl als      
  11 anderer irgend ein Urtheil zu sprechen? - Mithin scheint das System      
  12 des Unitariers sowohl als des Dualisten, beides als Dogma betrachtet,      
  13 das speculative Vermögen der menschlichen Vernunft gänzlich zu übersteigen      
  14 und alles uns dahin zurückzuführen, jene Vernunftideen schlechterdings      
  15 nur auf die Bedingungen des praktischen Gebrauchs einzuschränken.      
  16 Denn wir sehen doch nichts vor uns, das uns von unserm Schicksal in einer      
  17 künftigen Welt jetzt schon belehren könnte, als das Urtheil unsers eignen      
  18 Gewissens, d. i. was unser gegenwärtiger moralischer Zustand, so weit      
  19 wir ihn kennen, uns darüber vernünftigerweise urtheilen läßt: daß nämlich,      
  20 welche Principien unsers Lebenswandels wir bis zu dessen Ende in      
  21 uns herrschend gefunden haben (sie seien die des Guten oder des Bösen),      
  22 auch nach dem Tode fortfahren werden es zu sein; ohne daß wir eine Abänderung      
  23 derselben in jener Zukunft anzunehmen den mindesten Grund      
  24 haben. Mithin müßten wir uns auch der jenem Verdienste oder dieser      
  25 Schuld angemessenen Folgen unter der Herrschaft des guten oder des      
  26 bösen Princips für die Ewigkeit gewärtigen; in welcher Rücksicht es folglich      
  27 weise ist, so zu handeln, als ob ein andres Leben und der moralische      
  28 Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, sammt seinen Folgen      
  29 beim Eintritt in dasselbe unabänderlich sei. In praktischer Absicht wird      
  30 also das anzunehmende System das dualistische sein müssen; ohne doch      
  31 ausmachen zu wollen, welches von beiden in theoretischer und bloß speculativer      
  32 den Vorzug verdiene: zumal da das unitarische zu sehr in gleichgültige      
  33 Sicherheit einzuwiegen scheint.      
           
  34 Warum erwarten aber die Menschen überhaupt ein Ende der      
  35 Welt? Und, wenn dieses ihnen auch eingeräumt wird, warum eben ein Ende      
  36 mit schrecken (für den größten Theil des menschlichen Geschlechts)?... Der      
  37 Grund des erstern scheint darin zu liegen, weil die Vernunft ihnen sagt,      
           
     

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