Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 307

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
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III

     
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Vom Verhältniß der Theorie zur Praxis im Völkerrecht.

     
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In allgemein philanthropischer, d. i. kosmopolitischer Absicht betrachtet*).

     
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Gegen Moses Mendelssohn.

     
           
  05 Ist das menschliche Geschlecht im Ganzen zu lieben; oder ist es ein      
  06 Gegenstand, den man mit Unwillen betrachten muß, dem man zwar (um      
  07 nicht misanthrop zu werden) alles Gute wünscht, es doch aber nie an ihm      
  08 erwarten, mithin seine Augen lieber von ihm abwenden muß? Die Beantwortung      
  09 dieser Frage beruht auf der Antwort, die man auf eine andere      
  10 geben wird: Sind in der menschlichen Natur Anlagen, aus welchen man      
  11 abnehmen kann, die Gattung werde immer zum Bessern fortschreiten und      
  12 das Böse jetziger und vergangener Zeiten sich in dem Guten der künftigen      
  13 verlieren? Denn so können wir die Gattung doch wenigstens in ihrer beständigen      
  14 Annäherung zum Guten lieben, sonst müßten wir sie hassen oder      
  15 verachten; die Ziererei mit der allgemeinen Menschenliebe (die alsdann höchstens      
  16 nur eine Liebe des Wohlwollens, nicht des Wohlgefallens sein würde)      
  17 mag dagegen sagen, was sie wolle. Denn was böse ist und bleibt, vornehmlich      
  18 das in vorsetzlicher wechselseitiger Verletzung der heiligsten Menschenrechte,      
  19 das kann man - auch bei der größten Bemühung, Liebe in sich zu erzwingen      
  20 doch nicht vermeiden zu hassen: nicht gerade um Menschen Übels      
  21 zuzufügen, aber doch so wenig wie möglich mit ihnen zu thun zu haben.      
           
  22 Moses Mendelssohn war der letzteren Meinung (Jerusalem,      
  23 zweiter Abschnitt, S. 44 bis 47), die er seines Freundes Lessings Hypothese      
  24 von einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts entgegensetzt.      
  25 Es ist ihm Hirngespinst: "daß das Ganze, die Menschheit hienieden,      
  26 in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken und sich vervollkommnen      
  27 solle. - Wir sehen," sagt er, "das Menschengeschlecht im Ganzen kleine      
  28 Schwingungen machen; und es that nie einige Schritte vorwärts, ohne      
  29 bald nachher mit gedoppelter Geschwindigkeit in seinen vorigen Zustand      
  30 zurück zu gleiten." (Das ist so recht der Stein des Sisyphus; und man      
           
    *) Es fällt nicht sofort in die Augen, wie eine allgemein= philanthropische Voraussetzung auf eine weltbürgerliche Verfassung, diese aber auf die Gründung eines Völkerrechts hinweise, als einen Zustand, in welchem allein die Anlagen der Menschheit gehörig entwickelt werden können, die unsere Gattung liebenswürdig machen. - Der Beschluß dieser Nummer wird diesen Zusammenhang vor Augen stellen.      
           
     

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