Kant: AA VIII, Über das Mißlingen ... , Seite 262 |
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Text (Kant):
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| 01 | es gewesen ist (dagegen aber den Regeln der klugen Selbstliebe zuwider | ||||||
| 02 | war), zugefallen zu sein scheine; welches gerade das Gegentheil der Gerechtigkeit | ||||||
| 03 | ist, wie sich der Mensch einen Begriff von ihr machen kann. | ||||||
| 04 | Denn was die Möglichkeit betrifft, daß das Ende dieses Erdenlebens doch | ||||||
| 05 | vielleicht nicht das Ende alles Lebens sein möge: so kann diese Möglichkeit | ||||||
| 06 | nicht für Rechtfertigung der Vorsehung gelten, sondern ist bloß ein | ||||||
| 07 | Machtspruch der moralisch=gläubigen Vernunft, wodurch der Zweifelnde | ||||||
| 08 | zur Geduld verwiesen, aber nicht befriedigt wird. | ||||||
| 09 | c) Wenn endlich die dritte Auflösung dieses unharmonischen Verhältnisses | ||||||
| 10 | zwischen dem moralischen Werth der Menschen und dem Loose, | ||||||
| 11 | das ihnen zu Theil wird, dadurch versucht werden will, daß man sagt: in | ||||||
| 12 | dieser Welt müsse alles Wohl oder Übel bloß als Erfolg aus dem Gebrauche | ||||||
| 13 | der Vermögen der Menschen nach Gesetzen der Natur proportionirt | ||||||
| 14 | ihrer angewandten Geschicklichkeit und Klugheit, zugleich auch den Umständen, | ||||||
| 15 | darein sie zufälliger Weise gerathen, nicht aber nach ihrer Zusammenstimmung | ||||||
| 16 | zu übersinnlichen Zwecken beurtheilt werden; in einer | ||||||
| 17 | künftigen Welt dagegen werde sich eine andere Ordnung der Dinge hervorthun | ||||||
| 18 | und jedem zu Theil werden, wessen seine Thaten hienieden nach | ||||||
| 19 | moralischer Beurtheilung werth sind: - so ist diese Voraussetzung auch | ||||||
| 20 | willkürlich. Vielmehr muß die Vernunft, wenn sie nicht als moralisch | ||||||
| 21 | gesetzgebendes Vermögen diesem ihrem Interesse gemäß einen Machtspruch | ||||||
| 22 | thut, nach bloßen Regeln des theoretischen Erkenntnisses es wahrscheinlich | ||||||
| 23 | finden: daß der Lauf der Welt nach der Ordnung der Natur, so wie hier, | ||||||
| 24 | also auch fernerhin unsre Schicksale bestimmen werde. Denn was hat | ||||||
| 25 | die Vernunft für ihre theoretische Vermuthung anders zum Leitfaden, als | ||||||
| 26 | das Naturgesetz? Und ob sie sich gleich, wie ihr vorher (Nr. b) zugemuthet | ||||||
| 27 | worden, zur Geduld und Hoffnung eines künftig bessern verweisen ließe: | ||||||
| 28 | wie kann sie erwarten, daß, da der Lauf der Dinge nach der Ordnung | ||||||
| 29 | der Natur hier auch für sich selbst weise ist, er nach eben demselben Gesetze | ||||||
| 30 | in einer künftigen Welt unweise sein würde? Da also nach derselben | ||||||
| 31 | zwischen den innern Bestimmungsgründen des Willens (nämlich der | ||||||
| 32 | moralischen Denkungsart) nach Gesetzen der Freiheit und zwischen den | ||||||
| 33 | (größtentheils äußern) von unserm Willen unabhängigen Ursachen unsers | ||||||
| 34 | Wohlergehens nach Naturgesetzen gar kein begreifliches Verhältniß ist: | ||||||
| 35 | so bleibt die Vermuthung, daß die Übereinstimmung des Schicksals der | ||||||
| 36 | Menschen mit einer göttlichen Gerechtigkeit nach den Begriffen, die wir | ||||||
| 37 | uns von ihr machen, so wenig dort wie hier zu erwarten sei. | ||||||
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