Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 146

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 einer lange entwöhnten Freiheit in Mißbrauch und vermessenes Zutrauen      
  02 auf Unabhängigkeit ihres Vermögens von aller Einschränkung ausarten,      
  03 in eine Überredung von der Alleinherrschaft der speculativen Vernunft,      
  04 die nichts annimmt, als was sich durch objective Gründe und dogmatische      
  05 Überzeugung rechtfertigen kann, alles übrige aber kühn wegläugnet.      
  06 Die Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem      
  07 eigenen Bedürfniß (Verzichtthuung auf Vernunftglauben) heißt nun      
  08 Unglaube: nicht ein historischer; denn den kann man sich gar nicht      
  09 als vorsetzlich, mithin auch nicht als zurechnungsfähig denken (weil jeder      
  10 einem Factum, welches nur hinreichend bewährt ist, eben so gut als einer      
  11 mathematischen Demonstration glauben muß, er mag wollen oder nicht);      
  12 sondern ein Vernunftunglaube, ein mißlicher Zustand des menschlichen      
  13 Gemüths, der den moralischen Gesetzen zuerst alle Kraft der Triebfedern      
  14 auf das Herz, mit der Zeit sogar ihnen selbst alle Autorität benimmt      
  15 und die Denkungsart veranlaßt, die man Freigeisterei nennt,      
  16 d. i. den Grundsatz, gar keine Pflicht mehr zu erkennen. Hier mengt sich      
  17 nun die Obrigkeit ins Spiel, damit nicht selbst bürgerliche Angelegenheiten      
  18 in die größte Unordnung kommen; und da das behendeste und doch      
  19 nachdrücklichste Mittel ihr gerade das beste ist, so hebt sie die Freiheit zu      
  20 denken gar auf und unterwirft dieses gleich anderen Gewerben den Landesverordnungen.      
  21 Und so zerstört Freiheit im Denken, wenn sie sogar      
  22 unabhängig von Gesetzen der Vernunft verfahren will, endlich sich selbst.      
  23 Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten      
  24 ist! Nehmt an, was euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am      
  25 glaubwürdigsten scheint, es mögen nun Facta, es mögen Vernunftgründe      
  26 sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf      
  27 Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probirstein der Wahrheit*)      
  28 zu sein. Widrigenfalls werdet ihr, dieser Freiheit unwürdig, sie      
           
    *) Selbstdenken heißt den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnißvermögens ist, und öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, [Seitenumbruch] was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objectiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich blos der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnen Subjecten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen. Ein Zeitalter aber aufzuklären, ist sehr langwierig; denn es finden sich viel äußere Hindernisse, welche jene Erziehungsart theils verbieten, theils erschweren.      
           
     

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