Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 139

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 subjectiven zu berufen): so bleibt bei diesem Mangel der Einsicht doch ein      
  02 genugsamer subjectiver Grund der Annehmung derselben darin, da      
  03 die Vernunft es bedarf: etwas, was ihr verständlich ist, voraus zu setzen,      
  04 um diese gegebene Erscheinung daraus zu erklären, da alles, womit sie      
  05 sonst nur einen Begriff verbinden kann, diesem Bedürfnisse nicht abhilft.      
           
  06 Man kann aber das Bedürfniß der Vernunft als zwiefach ansehen:      
  07 erstlich in ihrem theoretischen, zweitens in ihrem praktischen      
  08 Gebrauch. Das erste Bedürfniß habe ich eben angeführt; aber man sieht      
  09 wohl, daß es nur bedingt sei, d. i. wir müssen die Existenz Gottes annehmen,      
  10 wenn wir über die ersten Ursachen alles Zufälligen vornehmlich      
  11 in der Ordnung der wirklich in der Welt gelegten Zwecke urtheilen      
  12 wollen. Weit wichtiger ist das Bedürfniß der Vernunft in ihrem      
  13 praktischen Gebrauche, weil es unbedingt ist, und wir die Existenz      
  14 Gottes voraus zu setzen nicht bloß alsdann genöthigt werden, wenn wir      
  15 urtheilen wollen, sondern weil wir urtheilen müssen. Denn der reine      
  16 praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen      
  17 Gesetze. Sie führen aber alle auf die Idee des höchsten Gutes,      
  18 was in der Welt möglich ist, so fern es allein durch Freiheit möglich ist:      
  19 die Sittlichkeit; von der anderen Seite auch auf das, was nicht bloß      
  20 auf menschliche Freiheit, sondern auch auf die Natur ankommt, nämlich      
  21 auf die größte Glückseligkeit, so fern sie in Proportion der ersten ausgetheilt      
  22 ist. Nun bedarf die Vernunft, ein solches abhängiges höchste      
  23 Gut und zum Behuf desselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges      
  24 Gut anzunehmen: zwar nicht um davon das verbindende      
  25 Ansehen der moralischen Gesetze, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung      
  26 abzuleiten (denn sie würden keinen moralischen Werth haben, wenn ihr      
  27 Bewegungsgrund von etwas anderem, als von dem Gesetz allein, das für      
  28 sich apodiktisch gewiß ist, abgeleitet würde); sondern nur um dem Begriffe      
  29 vom höchsten Gut objective Realität zu geben, d. i. zu verhindern,      
  30 daß es zusammt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal      
  31 gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existirte, dessen Idee die Moralität      
  32 unzertrennlich begleitet.      
           
  33 Es ist also nicht Erkenntniß, sondern gefühltes*) Bedürfniß      
  34 der Vernunft, wodurch sich Mendelssohn (ohne sein Wissen) im speculativen      
  35 Denken orientirte. Und da dieses Leitungsmittel nicht ein objectives      
           
    *) Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein und wirkt durch den Erkenntnißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses. Es ist hiemit, wie mit dem      
           
     

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