Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 313

   
         
 

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  01 Daß auf die Regierungsart alles ankomme, welchen Charakter ein    
  02 Volk haben werde, ist eine ungegründete, nichts erklärende Behauptung;    
  03 denn woher hat denn die Regierung selbst ihren eigenthümlichen Charakter?    
  04 - Auch Klima und Boden können den Schlüssel hiezu nicht geben;    
  05 denn Wanderungen ganzer Völker haben bewiesen, daß sie ihren Charakter    
  06 durch ihre neuen Wohnsitze nicht veränderten, sondern ihn diesen nur nach    
  07 Umständen anpaßten und doch dabei in Sprache, Gewerbart, selbst in    
  08 Kleidung die Spuren ihrer Abstammung und hiemit auch ihren Charakter    
  09 noch immer hervorblicken lassen. - - Ich werde die Zeichnung ihres    
  10 Portraits etwas mehr von der Seite ihrer Fehler und Abweichung von    
  11 der Regel, als von der schöneren (dabei aber doch auch nicht in Caricatur)    
  12 entwerfen; denn außerdem daß die Schmeichelei verdirbt, der Tadel dagegen    
  13 bessert: so verstößt der Kritiker weniger gegen die Eigenliebe der    
  14 Menschen, wenn er ihnen ohne Ausnahme blos ihre Fehler vorrückt, als    
  15 wenn er durch mehr oder weniger Lobpreisungen nur den Neid der Beurtheilten    
  16 gegen einander rege machte.    
         
  17 1. Die französische Nation charakterisirt sich unter allen andern    
  18 durch den Conversationsgeschmack, in Ansehung dessen sie das Muster aller    
  19 übrigen ist. Sie ist höflich, vornehmlich gegen den Fremden, der sie besucht,    
  20 wenn es gleich jetzt außer der Mode ist höfisch zu sein. Der Franzose    
  21 ist es nicht aus Interesse, sondern aus unmittelbarem Geschmacksbedürfniß    
  22 sich mitzutheilen. Da dieser Geschmack vorzüglich den Umgang    
  23 mit der weiblichen großen Welt angeht, so ist die Damensprache zur allgemeinen    
  24 Sprache der letzteren geworden, und es ist überhaupt nicht zu    
  25 streiten: daß eine Neigung solcher Art auch auf Willfährigkeit in Dienstleistungen,    
  26 hülfreiches Wohlwollen und allmählich auf allgemeine Menschenliebe    
  27 nach Grundsätzen Einfluß haben und ein solches Volk im Ganzen    
  28 liebenswürdig machen müsse.    
         
  29 Die Kehrseite der Münze ist die nicht genugsam durch überlegte    
  30 Grundsätze gezügelte Lebhaftigkeit und bei hellsehender Vernunft ein    
  31 Leichtsinn, gewisse Formen, blos weil sie alt oder auch nur übermäßig gepriesen    
  32 worden, wenn man sich gleich dabei wohl befunden hat, nicht lange    
  33 bestehen zu lassen, und ein ansteckender Freiheitsgeist, der auch wohl    
  34 die Vernunft selbst in sein Spiel zieht und in Beziehung des Volks auf    
         
     

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