Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 056

   
         
 

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  01 beim höchsten Fluge einer mystisch=gestimmten Einbildungskraft den Menschen    
  02 doch nicht von allem Selbstthun lossprechen kann, ohne ihn gänzlich    
  03 zur Maschine zu machen, so ist das anhaltende inbrünstige Gebet das,    
  04 was ihm noch zu Thun obliegt, (wofern man es überhaupt für ein thun    
  05 will gelten lassen) und wovon er sich jene übernatürliche Wirkung allein    
  06 versprechen kann; wobei doch auch der Scrupel eintritt: daß, da das Gebet,    
  07 wie es heißt, nur sofern erhörlich ist, als es im Glauben geschieht, dieser    
  08 selbst aber eine Gnadenwirkung ist, d. i. etwas, wozu der Mensch aus    
  09 eigenen Kräften nicht gelangen kann, er mit seinen Gnadenmitteln im    
  10 Cirkel geführt wird und am Ende eigentlich nicht weiß, wie er das Ding    
  11 angreifen solle.    
         
  12 Nach der zweiten Secte Meinung geschieht der erste Schritt, den der    
  13 sich seiner sündigen Beschaffenheit bewußt werdende Mensch zum Besseren    
  14 thut, ganz natürlich, durch die Vernunft, die, indem sie ihm im moralischen    
  15 Gesetz den Spiegel vorhält, worin er seine Verwerflichkeit erblickt,    
  16 die moralische Anlage zum Guten benutzt, um ihn zur Entschließung zu    
  17 bringen, es fortmehr zu seiner Maxime zu machen: aber die Ausführung    
  18 dieses Vorsatzes ist ein Wunder. Er wendet sich nämlich von der Fahne    
  19 des bösen Geistes ab und begiebt sich unter die des guten, welches eine    
  20 leichte Sache ist. Aber nun bei dieser zu beharren, nicht wieder ins Böse    
  21 zurück zu fallen, vielmehr im Guten immer mehr fortzuschreiten, das ist    
  22 die Sache, wozu er natürlicher Weise unvermögend sei, vielmehr nichts    
  23 Geringeres als Gefühl einer übernatürlichen Gemeinschaft und sogar das    
  24 Bewußtsein eines continuirlichen Umganges mit einem himmlischen Geiste    
  25 erfordert werde; wobei es zwischen ihm und dem letzteren zwar auf einer    
  26 Seite nicht an Verweisen, auf der andern nicht an Abbitten fehlen kann:    
  27 doch ohne daß eine Entzweiung oder Rückfall (aus der Gnade) zu besorgen    
  28 ist; wenn er nur darauf Bedacht nimmt, diesen Umgang, der selbst ein    
  29 continuirliches Gebet ist, ununterbrochen zu cultiviren.    
         
  30 Hier ist nun eine zwiefache mystische Gefühlstheorie zum Schlüssel    
  31 der Aufgabe: ein neuer Mensch zu werden, vorgelegt, wo es nicht um das    
  32 Object und den Zweck aller Religion (den Gott gefälligen Lebenswandel,    
  33 denn darüber stimmen beide Theile überein), sondern um die subjective    
  34 Bedingungen zu thun ist, unter denen wir allein Kraft dazu bekommen,    
  35 jene Theorie in uns zur Ausführung zu bringen; wobei dann von Tugend    
  36 (die ein leerer Name sei) nicht die Rede sein kann, sondern nur    
  37 von der Gnade, weil beide Parteien darüber einig sind, daß es hiemit    
         
     

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