Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 489 |
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| 01 | Aber nicht allein eben so groß, sondern noch größer (weil das | ||||||
| 02 | Princip einschränkend ist) ist der Anspruch, den die göttliche Gerechtigkeit | ||||||
| 03 | im Urtheile unserer eigenen Vernunft und zwar als strafende | ||||||
| 04 | an uns macht. - Denn Belohnung ( praemium, remuneratio | ||||||
| 05 | gratuita ) bezieht sich gar nicht auf Gerechtigkeit gegen Wesen, | ||||||
| 06 | die lauter Pflichten und keine Rechte gegen das andere haben, sondern | ||||||
| 07 | blos auf Liebe und Wohlthätigkeit ( benignitas ); - noch weniger | ||||||
| 08 | kann ein Anspruch auf Lohn ( merces ) bei einem solchen Wesen stattfinden, | ||||||
| 09 | und eine belohnende Gerechtigkeit ( iustitia brabeutica ) | ||||||
| 10 | ist im Verhältniß Gottes gegen Menschen ein Widerspruch. | ||||||
| 11 | Es ist aber doch in der Idee einer Gerechtigkeitsausübung eines | ||||||
| 12 | Wesens, was über allen Abbruch an seinen Zwecken erhaben ist, | ||||||
| 13 | etwas, was sich mit dem Verhältniß des Menschen zu Gott nicht | ||||||
| 14 | wohl vereinigen läßt: nämlich der Begriff einer Läsion, welche an | ||||||
| 15 | dem unumschränkten und unerreichbaren Weltherrscher begangen werden | ||||||
| 16 | könne; denn hier ist nicht von den Rechtsverletzungen, die Menschen | ||||||
| 17 | gegen einander verüben und worüber Gott als strafender Richter | ||||||
| 18 | entscheide, sondern von der Verletzung, die Gott selber und seinem | ||||||
| 19 | Recht widerfahren solle, die Rede, wovon der Begriff transscendent | ||||||
| 20 | ist, d. i. über den Begriff aller Strafgerechtigkeit, wovon wir | ||||||
| 21 | irgend ein Beispiel aufstellen können (d. i. der unter Menschen), | ||||||
| 22 | ganz hinaus liegt und überschwengliche Principien enthält, die mit | ||||||
| 23 | denen, welche wir in Erfahrungsfällen gebrauchen würden, gar nicht | ||||||
| 24 | in Zusammenstimmung gebracht werden können, folglich für unsere | ||||||
| 25 | praktische Vernunft gänzlich leer sind. | ||||||
| 26 | Die Idee einer göttlichen Strafgerechtigkeit wird hier personificirt; | ||||||
| 27 | es ist nicht ein besonderes richtendes Wesen, was sie ausübt (denn | ||||||
| 28 | da würden Widersprüche desselben mit Rechtsprincipien vorkommen), | ||||||
| 29 | sondern die Gerechtigkeit gleich als Substanz (sonst die ewige | ||||||
| 30 | Gerechtigkeit genannt), die wie das Fatum (Verhängniß) der alten | ||||||
| 31 | philosophirenden Dichter noch über dem Jupiter ist, spricht das | ||||||
| 32 | Recht nach der eisernen, unablenkbaren Nothwendigkeit aus, die für | ||||||
| 33 | uns weiter unerforschlich ist. - Hievon jetzt einige Beispiele. | ||||||
| 34 | Die Strafe läßt (nach dem Horaz) den vor ihr stolz schreitenden | ||||||
| 35 | Verbrecher nicht aus den Augen, sondern hinkt ihm unablässig nach, | ||||||
| 36 | bis sie ihn ertappt. - Das unschuldig vergossene Blut schreit um | ||||||
| 37 | Rache. - Das Verbrechen kann nicht ungerächt bleiben; trifft die | ||||||
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