Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 485

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Art von Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten.      
  02 Gesundheit ist aber nur ein negatives Wohlbefinden, sie selber kann      
  03 nicht gefühlt werden. Es muß etwas dazu kommen, was einen angenehmen      
  04 Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist. Das ist das      
  05 jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs. Denn      
  06 wer sollte wohl mehr Ursache haben frohen Muths zu sein und nicht darin      
  07 selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche Gemüthsstimmung zu versetzen      
  08 und sie sich habituell zu machen, als der, welcher sich keiner vorsetzlichen      
  09 Übertretung bewußt und wegen des Verfalls in eine solche gesichert      
  10 ist ( hic murus aheneus esto etc. Horat. ). - Die Mönchsascetik hingegen,      
  11 welche aus abergläubischer Furcht, oder geheucheltem Abscheu an sich selbst      
  12 mit Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung zu Werke geht, zweckt auch      
  13 nicht auf Tugend, sondern auf schwärmerische Entsündigung ab, sich selbst      
  14 Strafe aufzulegen und, anstatt sie moralisch (d. i. in Absicht auf die Besserung)      
  15 zu bereuen, sie büßen zu wollen, welches bei einer selbstgewählten      
  16 und an sich vollstreckten Strafe (denn die muß immer ein Anderer auflegen)      
  17 ein Widerspruch ist, und kann auch den Frohsinn, der die Tugend      
  18 begleitet, nicht bewirken, vielmehr nicht ohne geheimen Haß gegen das      
  19 Tugendgebot statt finden. - Die ethische Gymnastik besteht also nur in      
  20 der Bekämpfung der Naturtriebe, die das Maß erreicht, über sie bei vorkommenden,      
  21 der Moralität Gefahr drohenden Fällen Meister werden zu      
  22 können; mithin die wacker und im Bewußtsein seiner wiedererworbenen      
  23 Freiheit fröhlich macht. Etwas bereuen (welches bei der Rückerinnerung      
  24 ehemaliger Übertretungen unvermeidlich, ja wobei diese Erinnerung      
  25 nicht schwinden zu lassen, es sogar Pflicht ist) und sich eine Pönitenz      
  26 auferlegen (z. B. das Fasten), nicht in diätetischer, sondern frommer Rücksicht,      
  27 sind zwei sehr verschiedene, moralisch gemeinte Vorkehrungen, von      
  28 denen die letztere, welche freudenlos, finster und mürrisch ist, die Tugend      
  29 selbst verhaßt macht und ihre Anhänger verjagt. Die Zucht (Disciplin),      
  30 die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn,      
  31 der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden.      
           
           
     

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