Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 484 |
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| 01 | Cultur der Vernunft ist (weil diese Fragen, die, was Pflicht ist, | ||||||
| 02 | betreffen, weit leichter entscheiden kann, als in Ansehung der speculativen) | ||||||
| 03 | und so den Verstand der Jugend überhaupt zu schärfen die | ||||||
| 04 | schicklichste Art ist: sondern vornehmlich deswegen, weil es in der | ||||||
| 05 | Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung | ||||||
| 06 | er es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid | ||||||
| 07 | weiß) gebracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen Übungen | ||||||
| 08 | unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezogen wird. | ||||||
| 09 | Von der größten Wichtigkeit aber in der Erziehung ist es, den | ||||||
| 10 | moralischen Katechism nicht mit dem Religionskatechism vermischt | ||||||
| 11 | vorzutragen (zu amalgamiren), noch weniger ihn auf den letzteren | ||||||
| 12 | folgen zu lassen; sondern jederzeit den ersteren und zwar mit dem | ||||||
| 13 | größten Fleiße und Ausführlichkeit zur klärsten Einsicht zu bringen. | ||||||
| 14 | Denn ohne dieses wird nachher aus der Religion nichts als Heuchelei, | ||||||
| 15 | sich aus Furcht zu Pflichten zu bekennen und eine Theilnahme an | ||||||
| 16 | derselben, die nicht im Herzen liegt, zu lügen. | ||||||
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| 20 | Die Regeln der Übung un der Tugend ( exercitiorum virtutis ) gehen | ||||||
| 21 | auf die zwei Gemüthsstimmungen hinaus, wackeren und fröhlichen | ||||||
| 22 | Gemüths ( animus strenus et hilaris ) in Befolgung ihrer Pflichten zu | ||||||
| 23 | sein. Denn sie hat mit Hindernissen zu kämpfen, zu deren Überwältigung | ||||||
| 24 | sie ihre Kräfte zusammen nehmen muß, und zugleich manche Lebensfreuden | ||||||
| 25 | zu opfern, deren Verlust das Gemüth wohl bisweilen finster und | ||||||
| 26 | mürrisch machen kann; was man aber nicht mit Lust, sondern blos als | ||||||
| 27 | Frohndienst thut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen | ||||||
| 28 | inneren Werth und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung | ||||||
| 29 | so viel möglich geflohen. | ||||||
| 30 | Die Cultur der Tugend, d. i. die moralische Ascetik, hat in Ansehung | ||||||
| 31 | des Princips der rüstigen, muthigen und wackeren Tugendübung | ||||||
| 32 | den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich die zufälligen Lebensübel zu | ||||||
| 33 | ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren | ||||||
| 34 | ( assuesce incommodis et desuesce commoditatibus vitae ). Es ist eine | ||||||
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