Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 022

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der erste Grund der Annehmung unsrer Maximen, der selbst immer wiederum      
  02 in der freien Willkür liegen muß, kein Factum sein kann, das in      
  03 der Erfahrung gegeben werden könnte: so heißt das Gute oder Böse im      
  04 Menschen (als der subjective erste Grund der Annehmung dieser oder jener      
  05 Maxime in Ansehung des moralischen Gesetzes) bloß in dem Sinne angeboren,      
  06 als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit      
  07 (in der frühesten Jugend bis zur Geburt zurück) zum Grunde gelegt      
  08 wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt      
  09 wird: nicht daß die Geburt eben die Ursache davon sei.      
           
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Anmerkung.
     
           
  11 Dem Streite beider oben aufgestellten Hypothesen liegt ein disjunctiver      
  12 Satz zum Grunde: der Mensch ist (von Natur) entweder sittlich      
  13 gut oder sittlich böse. Es fällt aber jedermann leicht bei, zu fragen:      
  14 ob es auch mit dieser Disjunction seine Richtigkeit habe; und ob nicht      
  15 jemand behaupten könne: der Mensch sei von Natur keines von beiden;      
  16 ein Andrer aber: er sei beides zugleich, nämlich in einigen Stücken gut,      
  17 in andern böse. Die Erfahrung scheint sogar dieses Mittlere zwischen      
  18 beiden Extremen zu bestätigen.      
           
  19 Es liegt aber der Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralische      
  20 Mitteldinge weder in Handlungen ( adiaphora ) noch in menschlichen Charakteren,      
  21 so lange es möglich ist, einzuräumen: weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit      
  22 alle Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit und Festigkeit      
  23 einzubüßen. Man nennt gemeiniglich die, welche dieser strengen      
  24 Denkungsart zugethan sind (mit einem Namen, der einen Tadel in sich      
  25 fassen soll, in der That aber Lob ist): Rigoristen; und so kann man ihre      
  26 Antipoden Latitudinarier nennen. Diese sind also entweder Latitudinarier      
  27 der Neutralität und mögen Indifferentisten, oder der Coalition      
  28 und können Synkretisten genannt werden.*)      
           
           
    *) Wenn das Gute = a ist, so ist sein contradictorisch Entgegengesetztes das Nichtgute. Dieses ist nun die Folge entweder eines bloßen Mangels eines Grundes des Guten = 0, oder eines positiven Grundes des Widerspiels desselben = - a; im letzteren Falle kann das Nichtgute auch das positive Böse heißen. (In Ansehung des Vergnügens und Schmerzens giebt es ein dergleichen Mittleres, so daß das Vergnügen = a, der Schmerz = - a und der Zustand, worin keines von beiden angetroffen wird, die Gleichgültigkeit, = 0 ist.) Wäre nun das moralische Gesetz in uns [Seitenumbruch] keine Triebfeder der Willkür, so würde Moralisch=gut (Zusammenstimmung der Willkür mit dem Gesetze) = a, Nicht=gut = 0, dieses aber die bloße Folge vom Mangel einer moralischen Triebfeder = ax0 sein.Nun ist es aber in uns Triebfeder = a; folglich ist der Mangel der Übereinstimmung der Willkür mit demselben (= 0) nur als Folge von einer realiter entgegengesetzten Bestimmung der Willkür, d. i. einer Widerstrebung derselben = - a, d. i. nur durch eine böse Willkür, möglich; und zwischen einer bösen und guten Gesinnung (innerem Princip der Maximen), nach welcher auch die Moralität der Handlung beurtheilt werden muß, giebt es also nichts Mittleres.      
           
     

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