Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 419

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zur andern, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke      
  02 am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum      
  03 Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten und endlich zu der      
  04 niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus      
  05 welcher und ihren Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wornach      
  06 sie in Krystallerzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die      
  07 uns in organisirten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein      
  08 anderes Princip zu denken genöthigt glauben, abzustammen scheint.      
           
  09 Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übriggebliebenen      
  10 Spuren ihrer ältesten Revolutionen nach allem ihm bekannten      
  11 oder gemuthmaßten Mechanism derselben jene große Familie von Geschöpfen      
  12 (denn so müßte man sie sich vorstellen, wenn die genannte durchgängig      
  13 zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) entspringen      
  14 zu lassen. Er kann den Mutterschooß der Erde, die eben aus      
  15 ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Thier),      
  16 anfänglich Geschöpfe von minder=zweckmäßiger Form, diese wiederum      
  17 andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse      
  18 unter einander sich ausbildeten, gebären lassen; bis diese Gebärmutter      
  19 selbst, erstarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte, fernerhin      
  20 nicht ausartende Species eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltigkeit so      
  21 bliebe, wie sie am Ende der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft      
  22 ausgefallen war. - Allein er muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen      
  23 Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation      
  24 beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier= und      
  25 Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.*) Alsdann      
           
    *) Eine Hypothese von solcher Art kann man ein gewagtes Abenteuer der Vernunft nennen; und es mögen wenige selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre. Denn ungereimt ist es eben nicht, wie die generatio aequivoca , worunter man die Erzeugung eines organisirten Wesens durch die Mechanik der rohen unorganisirten Materie versteht. Sie wäre immer noch generatio univoca in der allgemeinsten Bedeutung des Worts, sofern nur etwas Organisches aus einem andern Organischen, obzwar unter dieser Art Wesen specifisch von ihm Unterschiedenen, erzeugt würde; z. B. wenn gewisse Wasserthiere sich nach und nach zu Sumpfthieren und aus diesen nach einigen Zeugungen zu Landthieren ausbildeten. A priori, im Urtheile der bloßen Vernunft, widerstreitet sich das nicht. Allein die Erfahrung zeigt davon kein Beispiel, nach der vielmehr alle Zeugung, die wir kennen, generatio homonyma ist, nicht bloß univoca im Gegensatz mit der Zeugung aus unorganisirtem Stoffe, sondern auch [Seitenumbruch] ein in der Organisation selbst mit dem Erzeugenden gleichartiges Product hervorbringt, und die generatio heteronyma , so weit unsere Erfahrungskenntniß der Natur reicht, nirgend angetroffen wird.      
           
     

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