Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 061 |
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| 01 | ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den | ||||||
| 02 | Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheues; mithin bedarf es | ||||||
| 03 | außer dem Sinne zu dieser Beurtheilung noch Vernunft. So ist es mit | ||||||
| 04 | der Wahrhaftigkeit im Gegensatze mit der Lüge, so mit der Gerechtigkeit | ||||||
| 05 | im Gegensatz der Gewaltthätigkeit etc. bewandt. Wir können aber etwas | ||||||
| 06 | ein Übel nennen, welches doch jedermann zugleich für gut, bisweilen mittelbar, | ||||||
| 07 | bisweilen gar unmittelbar, erklären muß. Der eine chirurgische Operation | ||||||
| 08 | an sich verrichten läßt, fühlt sie ohne Zweifel als ein Übel; aber | ||||||
| 09 | durch Vernunft erklärt er und jedermann sie für gut. Wenn aber jemand, | ||||||
| 10 | der friedliebende Leute gerne neckt und beunruhigt, endlich einmal anläuft | ||||||
| 11 | und mit einer tüchtigen Tracht Schläge abgefertigt wird: so ist dieses | ||||||
| 12 | allerdings ein Übel, aber jedermann giebt dazu seinen Beifall und hält es | ||||||
| 13 | an sich für gut, wenn auch nichts weiter daraus entspränge; ja selbst der, | ||||||
| 14 | der sie empfängt, muß in seiner Vernunft erkennen, daß ihm Recht geschehe, | ||||||
| 15 | weil er die Proportion zwischen dem Wohlbefinden und Wohlverhalten, | ||||||
| 16 | welche die Vernunft ihm unvermeidlich vorhält, hier genau in | ||||||
| 17 | Ausübung gebracht sieht. | ||||||
| 18 | Es kommt allerdings auf unser Wohl und Weh in der Beurtheilung | ||||||
| 19 | unserer praktischen Vernunft gar sehr viel und, was unsere Natur als | ||||||
| 20 | sinnlicher Wesen betrifft, alles auf unsere Glückseligkeit an, wenn diese, | ||||||
| 21 | wie Vernunft es vorzüglich fordert, nicht nach der vorübergehenden Empfindung, | ||||||
| 22 | sondern nach dem Einflusse, den diese Zufälligkeit auf unsere | ||||||
| 23 | ganze Existenz und die Zufriedenheit mit derselben hat, beurtheilt wird; | ||||||
| 24 | aber alles überhaupt kommt darauf doch nicht an. Der Mensch ist | ||||||
| 25 | ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat | ||||||
| 26 | seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten | ||||||
| 27 | der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich | ||||||
| 28 | praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo | ||||||
| 29 | möglich auch eines zukünftigen Lebens, zu machen. Aber er ist doch nicht | ||||||
| 30 | so ganz Thier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig | ||||||
| 31 | zu sein und diese blos zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses | ||||||
| 32 | als Sinnenwesens zu gebrauchen. Denn im Werthe über die | ||||||
| 33 | bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie | ||||||
| 34 | ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinct | ||||||
| 35 | verrichtet; sie wäre alsdann nur eine besondere Manier, deren sich die | ||||||
| 36 | Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie | ||||||
| 37 | Thiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu | ||||||
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