Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 509

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Kräfte, die der ausdehnenden entgegengesetzt sind, d. i. zusammendrückende      
  02 Kräfte. Diese können aber ursprünglich nicht wiederum in der Entgegenstrebung      
  03 einer anderen Materie gesucht werden; denn diese bedarf, damit      
  04 sie Materie sei, selbst einer zusammendrückenden Kraft. Also muß irgendwo      
  05 eine ursprüngliche Kraft der Materie, welche in entgegengesetzter Direction      
  06 der repulsiven, mithin zur Annäherung wirkt, d. i. eine Anziehungskraft,      
  07 angenommen werden. Da nun diese Anziehungskraft zur Möglichkeit einer      
  08 Materie als Materie überhaupt gehört, folglich vor allen Unterschieden      
  09 derselben vorhergeht, so darf sie nicht blos einer besonderen Gattung derselben,      
  10 sondern muß jeder Materie überhaupt und zwar ursprünglich beigelegt      
  11 werden. Also kommt aller Materie eine ursprüngliche Anziehung,      
  12 als zu ihrem Wesen gehörige Grundkraft, zu.      
           
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Anmerkung.
     
           
  14 Bei diesem Übergange von einer Eigenschaft der Materie zu einer andern,      
  15 specifisch davon unterschiedenen, die zum Begriffe der Materie eben sowohl gehört,      
  16 obgleich in demselben nicht enthalten ist, muß das Verhalten unseres      
  17 Verstandes in nähere Erwägung gezogen werden. Wenn Anziehungskraft selbst      
  18 zur Möglichkeit der Materie ursprünglich erfordert wird, warum bedienen wir uns      
  19 ihrer nicht eben sowohl, als der Undurchdringlichkeit zum ersten Kennzeichen einer      
  20 Materie? Warum wird die letztere unmittelbar mit dem Begriffe einer Materie      
  21 gegeben, die erstere aber nicht in dem Begriffe gedacht, sondern nur durch Schlüsse      
  22 ihm beigefügt? Daß unsere Sinne uns diese Anziehung nicht so unmittelbar wahrnehmen      
  23 lassen, als die Zurückstoßung und das Widerstreben der Undurchdringlichkeit,      
  24 kann die Schwierigkeit noch nicht hinlänglich beantworten. Denn wenn wir      
  25 auch ein solches Vermögen hätten, so ist doch leicht einzusehen, daß unser Verstand      
  26 sich nichts destoweniger die Erfüllung des Raumes wählen würde, um dadurch die      
  27 Substanz im Raume, d. i. die Materie, zu bezeichnen, wie denn eben in dieser Erfüllung      
  28 oder, wie man sie sonst nennt, der Solidität das Charakteristische der      
  29 Materie, als eines vom Raume unterschiedenen Dinges, gesetzt wird. Anziehung,      
  30 wenn wir sie auch noch so gut empfänden, würde uns doch niemals eine Materie      
  31 von bestimmtem Volumen und Gestalt offenbaren, sondern nichts als die Bestrebung      
  32 unseres Organs, sich einem Punkte außer uns (dem Mittelpunkt des anziehenden      
  33 Körpers) zu nähern. Denn die Anziehungskraft aller Theile der Erde      
  34 kann auf uns nichts mehr, auch nichts anderes wirken, als wenn sie gänzlich in      
  35 dem Mittelpunkte derselben vereinigt wäre, und dieser allein auf unsern Sinn einflösse,      
  36 eben so die Anziehung eines Berges oder jeden Steins etc. Nun bekommen      
  37 wir dadurch keinen bestimmten Begriff von irgend einem Objecte im Raume, da      
  38 weder Gestalt, noch Größe, ja nicht einmal der Ort, wo er sich befände, in unsere      
           
     

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