Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 125 |
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| 01 | von welchem aller Wechsel und Zugleichsein nichts als so viel | ||||||
| 02 | Arten ( modi der Zeit) sind, wie das Beharrliche existirt. Nur in dem Beharrlichen | ||||||
| 03 | sind also Zeitverhältnisse möglich (denn Simultaneität und Succession | ||||||
| 04 | sind die einzige Verhältnisse in der Zeit), d. i. das Beharrliche ist | ||||||
| 05 | das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem | ||||||
| 06 | alle Zeitbestimmung allein möglich ist. Die Beharrlichkeit drückt überhaupt | ||||||
| 07 | die Zeit als das beständige Correlatum alles Daseins der Erscheinungen, | ||||||
| 08 | alles Wechsels und aller Begleitung aus. Denn der Wechsel trifft die Zeit | ||||||
| 09 | selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit (so wie das Zugleichsein | ||||||
| 10 | nicht ein modus der Zeit selbst ist, als in welcher gar keine Theile | ||||||
| 11 | zugleich, sondern alle nach einander sind). Wollte man der Zeit selbst eine | ||||||
| 12 | Folge nach einander beilegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, | ||||||
| 13 | in welcher diese Folge möglich wäre. Durch das Beharrliche allein bekommt | ||||||
| 14 | das Dasein in verschiedenen Theilen der Zeitreihe nach einander eine | ||||||
| 15 | Größe, die man Dauer nennt. Denn in der bloßen Folge allein ist das | ||||||
| 16 | Dasein immer verschwindend und anhebend und hat niemals die mindeste | ||||||
| 17 | Größe. Ohne dieses Beharrliche ist also kein Zeitverhältniß. Nun kann | ||||||
| 18 | die Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen werden; mithin ist dieses Beharrliche | ||||||
| 19 | an den Erscheinungen das Substratum aller Zeitbestimmung, | ||||||
| 20 | folglich auch die Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der | ||||||
| 21 | Wahrnehmungen, d. i. der Erfahrung; und an diesem Beharrlichen kann | ||||||
| 22 | alles Dasein und aller Wechsel in der Zeit nur als ein modus der Existenz | ||||||
| 23 | dessen, was bleibt und beharrt, angesehen werden. Also ist in allen Erscheinungen | ||||||
| 24 | das Beharrliche der Gegenstand selbst, d. i. die Substanz | ||||||
| 25 | ( phaenomenon ); alles aber, was wechselt oder wechseln kann, gehört nur | ||||||
| 26 | zu der Art, wie diese Substanz oder Substanzen existiren, mithin zu ihren | ||||||
| 27 | Bestimmungen. | ||||||
| 28 | Ich finde, daß zu allen Zeiten nicht blos der Philosoph, sondern selbst | ||||||
| 29 | der gemeine Verstand diese Beharrlichkeit als ein Substratum alles Wechsels | ||||||
| 30 | der Erscheinungen vorausgesetzt haben und auch jederzeit als ungezweifelt | ||||||
| 31 | annehmen werden, nur daß der Philosoph sich hierüber etwas bestimmter | ||||||
| 32 | ausdrückt, indem er sagt: bei allen Veränderungen in der Welt | ||||||
| 33 | bleibt die Substanz, und nur die Accidenzen wechseln. Ich treffe aber | ||||||
| 34 | von diesem so synthetischen Satze nirgends auch nur den Versuch von einem | ||||||
| 35 | Beweise; ja er steht auch nur selten, wie es ihm doch gebührt, an der | ||||||
| 36 | Spitze der reinen und völlig a priori bestehenden Gesetze der Natur. In | ||||||
| 37 | der That ist der Satz, daß die Substanz beharrlich sei, tautologisch. Denn | ||||||
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