Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 551 |
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| 01 | Epikur kann der vornehmste Philosoph der Sinnlichkeit, | ||||||
| 02 | Plato des Intellectuellen genannt werden. Dieser Unterschied der Schulen | ||||||
| 03 | aber, so subtil er auch ist, hatte schon in den frühesten Zeiten angefangen | ||||||
| 04 | und hat sich lange ununterbrochen erhalten. Die von der ersteren | ||||||
| 05 | behaupteten, in den Gegenständen der Sinne sei allein Wirklichkeit, alles | ||||||
| 06 | übrige sei Einbildung; die von der zweiten sagten dagegen: in den Sinnen | ||||||
| 07 | ist nichts als Schein, nur der Verstand erkennt das Wahre. Darum | ||||||
| 08 | stritten aber die ersteren den Verstandesbegriffen doch eben nicht Realität | ||||||
| 09 | ab, sie war aber bei ihnen nur logisch, bei den andern aber mystisch. | ||||||
| 10 | Jene räumten intellectuelle Begriffe ein, aber nahmen bloß sensibele | ||||||
| 11 | Gegenstände an. Diese verlangten, daß die wahren Gegenstände | ||||||
| 12 | bloß intelligibel wären, und behaupteten eine Anschauung durch den | ||||||
| 13 | von keinen Sinnen begleiteten und ihrer Meinung nach nur verwirrten | ||||||
| 14 | reinen Verstand. | ||||||
| 15 | 2. In Ansehung des Ursprungs reiner Vernunfterkenntnisse, ob | ||||||
| 16 | sie aus der Erfahrung abgeleitet, oder unabhängig von ihr in der Vernunft | ||||||
| 17 | ihre Quelle haben. Aristoteles kann als das Haupt der Empiristen, | ||||||
| 18 | Plato aber der Noologisten angesehen werden. Locke, der in neueren | ||||||
| 19 | Zeiten dem ersteren, und Leibniz, der dem letzteren (obzwar in einer genugsamen | ||||||
| 20 | Entfernung von dessen mystischem Systeme) folgte, haben es | ||||||
| 21 | gleichwohl in diesem Streite noch zu keiner Entscheidung bringen können. | ||||||
| 22 | Wenigstens verfuhr Epikur seinerseits viel consequenter nach seinem Sensualsystem | ||||||
| 23 | (denn er ging mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze | ||||||
| 24 | der Erfahrung hinaus), als Aristoteles und Locke (vornehmlich aber der | ||||||
| 25 | letztere), der, nachdem er alle Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung | ||||||
| 26 | abgeleitet hatte, so weit im Gebrauch derselben geht, daß er behauptet, | ||||||
| 27 | man könne das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (obzwar | ||||||
| 28 | beide Gegenstände ganz außer den Grenzen möglicher Erfahrung liegen) | ||||||
| 29 | eben so evident beweisen, als irgend einen mathematischen Lehrsatz. | ||||||
| 30 | 3. In Ansehung der Methode. Wenn man etwas Methode | ||||||
| 31 | nennen soll, so muß es ein Verfahren nach Grundsätzen sein. Nun kann | ||||||
| 32 | man die jetzt in diesem Fache der Nachforschung herrschende Methode in | ||||||
| 33 | die naturalistische und scientifische eintheilen. Der Naturalist der | ||||||
| 34 | reinen Vernunft nimmt es sich zum Grundsatze: daß durch gemeine Vernunft | ||||||
| 35 | ohne Wissenschaft (welche er die gesunde Vernunft nennt) sich in | ||||||
| 36 | Ansehung der erhabensten Fragen, die die Aufgabe der Metaphysik ausmachen, | ||||||
| 37 | mehr ausrichten lasse, als durch Speculation. Er behauptet also, | ||||||
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