Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 460 |
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| 01 | Einheit bei der größtmöglichen Mannigfaltigkeit angetroffen | ||||||
| 02 | würde. Denn wiewohl wir nur wenig von dieser Weltvollkommenheit ausspähen | ||||||
| 03 | oder erreichen werden, so gehört es doch zur Gesetzgebung unserer | ||||||
| 04 | Vernunft, sie allerwärts zu suchen und zu vermuthen; und es muß uns | ||||||
| 05 | jederzeit vortheilhaft sein, niemals aber kann es nachtheilig werden, nach | ||||||
| 06 | diesem Princip die Naturbetrachtung anzustellen. Es ist aber unter dieser | ||||||
| 07 | Vorstellung der zum Grunde gelegten Idee eines höchsten Urhebers auch | ||||||
| 08 | klar: daß ich nicht das Dasein und die Kenntniß eines solchen Wesens, | ||||||
| 09 | sondern nur die Idee desselben zum Grunde lege und also eigentlich nichts | ||||||
| 10 | von diesem Wesen, sondern bloß von der Idee desselben, d. i. von der Natur | ||||||
| 11 | der Dinge der Welt, nach einer solchen Idee ableite. Auch scheint ein | ||||||
| 12 | gewisses, obzwar unentwickeltes Bewußtsein des ächten Gebrauchs dieses | ||||||
| 13 | unseren Vernunftbegriffs die bescheidene und billige Sprache der Philosophen | ||||||
| 14 | aller Zeiten veranlaßt zu haben, da sie von der Weisheit und Vorsorge | ||||||
| 15 | der Natur und der göttlichen Weisheit als gleichbedeutenden Ausdrücken | ||||||
| 16 | reden, ja den ersten Ausdruck, so lange es um bloß speculative | ||||||
| 17 | Vernunft zu thun ist, vorziehen, weil er die Anmaßung einer größeren | ||||||
| 18 | Behauptung, als die ist, wozu wir befugt sind, zurück hält und zugleich | ||||||
| 19 | die Vernunft auf ihr eigenthümliches Feld, die Natur, zurück weiset. | ||||||
| 20 | So enthält die reine Vernunft, die uns anfangs nichts geringeres | ||||||
| 21 | als Erweiterung der Kenntnisse über alle Grenzen der Erfahrung zu versprechen | ||||||
| 22 | schien, wenn wir sie Recht verstehen, nichts als regulative Principien, | ||||||
| 23 | die zwar größere Einheit gebieten, als der empirische Verstandesgebrauch | ||||||
| 24 | erreichen kann, aber eben dadurch, daß sie das Ziel der Annäherung | ||||||
| 25 | desselben so weit hinausrücken, die Zusammenstimmung desselben | ||||||
| 26 | mit sich selbst durch systematische Einheit zum höchsten Grade bringen, | ||||||
| 27 | wenn man sie aber mißversteht und sie für constitutive Principien transscendenter | ||||||
| 28 | Erkenntnisse hält, durch einen zwar glänzenden, aber trüglichen | ||||||
| 29 | Schein Überredung und eingebildetes Wissen, hiemit aber ewige Widersprüche | ||||||
| 30 | und Streitigkeiten hervorbringen. | ||||||
| 31 | So fängt denn alle menschliche Erkenntniß mit Anschauungen an, | ||||||
| 32 | geht von da zu Begriffen und endigt mit Ideen. Ob sie zwar in Ansehung | ||||||
| 33 | aller drei Elemente Erkenntnißquellen a priori hat, die beim ersten Anblicke | ||||||
| 34 | die Grenzen aller Erfahrung zu verschmähen scheinen, so überzeugt doch eine | ||||||
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