Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 014

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in      
  02 den Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten      
  03 und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt.      
  04 Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntniß richte      
  05 sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte      
  06 ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn      
  07 man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden,      
  08 richte sich nicht nach diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände      
  09 vielmehr als Erscheinungen richten sich nach unserer Vorstellungsart,      
  10 der Widerspruch wegfalle; und daß folglich das Unbedingte nicht      
  11 an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber      
  12 an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen      
  13 werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen,      
  14 gegründet sei.*) Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der      
  15 speculativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen      
  16 abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen      
  17 Erkenntniß Data finden, jenen transscendenten Vernunftbegriff des Unbedingten      
  18 zu bestimmen und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik      
  19 gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem,      
  20 aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen.      
  21 Und bei einem solchen Verfahren hat uns die speculative Vernunft      
  22 zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie      
  23 ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen,      
  24 ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data      
  25 derselben, wenn wir können, auszufüllen. **)      
           
    *) Dieses Experiment der reinen Vernunft hat mit dem der Chemiker, welches sie mannigmal den Versuch der Reduction, im Allgemeinen aber das synthetische Verfahren nennen, viel Ähnliches. Die Analysis des Metaphysikers schied die reine Erkenntniß a priori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der nothwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist.      
           
    **) So verschafften die Centralgesetze der Bewegungen der Himmelskörper dem, was Copernicus anfänglich nur als Hypothese annahm, ausgemachte Gewißheit und bewiesen zugleich die unsichtbare den Weltbau verbindende Kraft (der Newtonischen Anziehung), welche auf immer unentdeckt geblieben wäre, wenn der erstere es nicht gewagt hätte, auf eine widersinnische, aber doch wahre Art die beobachteten [Seitenumbruch] Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen. Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene jener Hypothese analogische Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen vom Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes nicht hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird, um nur die ersten Versuche einer solchen Umänderung, welche allemal hypothetisch sind, bemerklich zu machen.      
           
     

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