Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 318

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Verfall durch den natürlichen Hang, den die Mechanik der Bewegungen      
  02 dazu hat, vorher zu verkündigen. Wenn eine systematische Verfassung      
  03 durch die wesentliche Folge der Hinfälligkeit in großen Zeitläuften auch      
  04 den allerkleinsten Theil, den man sich nur gedenken mag, dem Zustande      
  05 ihrer Verwirrung nähert: so muß in dem unendlichen Ablaufe      
  06 der Ewigkeit doch ein Zeitpunkt sein, da diese allmähliche Verminderung      
  07 alle Bewegung erschöpft hat.      
           
  08 Wir dürfen aber den Untergang eines Weltgebäudes nicht als      
  09 einen wahren Verlust der Natur bedauren. Sie beweiset ihren Reichthum      
  10 in einer Art von Verschwendung, welche, indem einige Theile      
  11 der Vergänglichkeit den Tribut bezahlen, sich durch unzählige neue      
  12 Zeugungen in dem ganzen Umfange ihrer Vollkommenheit unbeschadet      
  13 erhält. Welch eine unzählige Menge Blumen und Insecten zerstört      
  14 ein einziger kalter Tag; aber wie wenig vermißt man sie, unerachtet      
  15 es herrliche Kunstwerke der Natur und Beweisthümer der göttlichen      
  16 Allmacht sind! An einem andern Orte wird dieser Abgang mit Überflu      
  17 wiederum ersetzt. Der Mensch, der das Meisterstück der Schöpfung      
  18 zu sein scheint, ist selbst von diesem Gesetze nicht ausgenommen. Die      
  19 Natur beweiset, daß sie eben so reich, eben so unerschöpft in Hervorbringung      
  20 des Trefflichsten unter den Creaturen, als des Geringschätzigsten      
  21 ist, und daß selbst deren Untergang eine nothwendige      
  22 Schattirung in der Mannigfaltigkeit ihrer Sonnen ist, weil die Erzeugung      
  23 derselben ihr nichts kostet. Die schädlichen Wirkungen der      
  24 angesteckten Luft, die Erdbeben, die Überschwemmungen vertilgen ganze      
  25 Völker von dem Erdboden; allein es scheint nicht, daß die Natur dadurch      
  26 einigen Nachtheil erlitten habe. Auf gleiche Weise verlassen      
  27 ganze Welten und Systemen den Schauplatz, nachdem sie ihre Rolle      
  28 ausgespielt haben. Die Unendlichkeit der Schöpfung ist groß genug,      
  29 um eine Welt, oder eine Milchstraße von Welten gegen sie anzusehen,      
  30 wie man eine Blume, oder ein Insect in Vergleichung gegen die Erde      
  31 ansieht. Indessen, daß die Natur mit veränderlichen Auftritten die      
  32 Ewigkeit ausziert, bleibt Gott in einer unaufhörlichen Schöpfung geschäftig,      
  33 den Zeug zur Bildung noch größerer Welten zu formen.      
  34 Der stets mit einem gleichen Auge, weil er der Schöpfer ja von allen,      
  35 Sieht einen Helden untergehn und einen kleinen Sperling fallen,      
  36 Sieht eine Wasserblase springen und eine ganze Welt vergehn.      
  37 Pope nach Brockes' Übersetzung.      
           
           
     

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