Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 227

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 mit der Veränderung der geradlinichten Senkung, die wir aus      
  02 der Zurückstoßungskraft der Theilchen herleiten, überein; endlich waren      
  03 die Wirbel, die aus der verwirrten Bewegung der Atomen entstanden,      
  04 ein Hauptstück in dem Lehrbegriffe des Leucipps und Demokritus, und      
  05 man wird sie auch in dem unsrigen antreffen. So viel Verwandtschaft      
  06 mit einer Lehrverfassung, die die wahre Theorie der Gottesleugnung im      
  07 Alterthum war, zieht indessen die meinige dennoch nicht in die Gemeinschaft      
  08 ihrer Irrthümer. Auch in den allerunsinnigsten Meinungen, welche      
  09 sich bei den Menschen haben Beifall erwerben können, wird man jederzeit      
  10 etwas Wahres bemerken. Ein falscher Grundsatz oder ein paar      
  11 unüberlegte Verbindungssätze leiten den Menschen von dem Fußsteige      
  12 der Wahrheit durch unmerkliche Abwege bis in den Abgrund. Es bleibt      
  13 unerachtet der angeführten Ähnlichkeit dennoch ein wesentlicher Unterschied      
  14 zwischen der alten Kosmogonie und der gegenwärtigen, um aus      
  15 dieser ganz entgegengesetzte Folgen ziehen zu können.      
           
  16 Die angeführten Lehrer der mechanischen Erzeugung des Weltbaues      
  17 leiteten alle Ordnung, die sich an demselben wahrnehmen läßt,      
  18 aus dem ungefähren Zufalle her, der die Atomen so glücklich zusammentreffen      
  19 ließ, daß sie ein wohlgeordnetes Ganze ausmachten. Epikur      
  20 war gar so unverschämt, daß er verlangte, die Atomen wichen von ihrer      
  21 geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu      
  22 können. Alle insgesammt trieben diese Ungereimtheit so weit, daß sie      
  23 den Ursprung aller belebten Geschöpfe eben diesem blinden Zusammenlauf      
  24 beimaßen und die Vernunft wirklich aus der Unvernunft herleiteten.      
  25 In meiner Lehrverfassung hingegen finde ich die Materie an gewisse      
  26 nothwendige Gesetze gebunden. Ich sehe in ihrer gänzlichen Auflösung      
  27 und Zerstreuung ein schönes und ordentliches Ganze sich ganz natürlich      
  28 daraus entwickeln. Es geschieht dieses nicht durch einen Zufall und von      
  29 ungefähr, sondern man bemerkt, daß natürliche Eigenschaften es nothwendig      
  30 also mit sich bringen. Wird man hiedurch nicht bewogen zu      
  31 fragen: warum mußte denn die Materie gerade solche Gesetze haben,      
  32 die auf Ordnung und Wohlanständigkeit abzwecken? war es wohl möglich,      
  33 daß viele Dinge, deren jedes seine von dem andern unabhängige      
  34 Natur hat, einander von selber gerade so bestimmen sollten, daß ein      
  35 wohlgeordnetes Ganze daraus entspringe, und wenn sie dieses thun,      
  36 giebt es nicht einen unleugbaren Beweis von der Gemeinschaft ihres      
  37 ersten Ursprungs ab, der ein allgenugsamer höchster Verstand sein muß,      
           
     

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