Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 201

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die plattesten Theile von Niedersachsen, der Theil von Preußen, da die      
  02 Weichsel sich in so viel Arme theilt und, gleichsam auf ihr ewiges Recht      
  03 erpicht, die Länder öftermals unter ihrem Gewässer zu bedecken trachtet,      
  04 die der Menschen Fleiß ihm zum Theil abgewonnen hat, scheinen      
  05 jünger, fetter und blühender zu sein, als die höchsten Gegenden des      
  06 Ursprungs dieser Flüsse, die schon bewohnt waren, als die letztere noch      
  07 Moräste und Meerbusen waren.      
           
  08 Diese Veränderung der Natur ist einer Erläuterung würdig. Die      
  09 Flüsse fanden nicht gleich anfangs, als das Trockne vom Meere befreiet      
  10 wurde, fertige Schläuche und einen zubereiteten einförmichten Abhang      
  11 ihres Laufes. Sie traten noch an vielen Orten über und machten      
  12 stehende Gewässer, die das Land unbrauchbar machten. Nach und nach      
  13 höhlten sie sich in dem frischen und weichen Erdreiche Canäle aus, und      
  14 mit dem weggespülten Schlamme, damit sie angefüllt waren, bildeten      
  15 sie zu beiden Seiten ihres stärksten Zuges eigene Ufer, welche bei      
  16 niedrigem Wasser ihren Strom fassen und einschränken konnten, bei      
  17 stärkerer Aufschwellung aber durch das Übertreten nach und nach erhöht      
  18 wurden, bis ihre vollkommen ausgebildete Fluthbette in den Stand      
  19 gesetzt waren, das Wasser, welches die umliegende Länder ihnen lieferten,      
  20 mit einförmichtem, gemäßigtem Abhange bis ins Meer abzuführen.      
  21 Die höchste Gegenden sind die ersten, die dieser nöthigen Auswickelung      
  22 der Natur sich zu erfreuen hatten, und wurden daher auch zuerst bewohnt,      
  23 indessen daß die niedrige eine Zeit lang mit der Verwirrung      
  24 stritten und später zur Vollkommenheit gelangten. Seitdem bereichern      
  25 sich die niedrigen Länder mit dem Raube der hohen Gegenden. Die      
  26 Flüsse, die zu der Zeit, da sie hoch anschwellen, mit dem abgespülten      
  27 Schlamme trächtig sind, setzen bei ihren Überströmungen nahe zu dem      
  28 Ausflusse derselben diesen ab, erhöhen den Boden, über den sie sich      
  29 ausbreiten, und bilden das Trockene, welches, nachdem der Fluß seine      
  30 Ufer bis zur gehörigen Höhe vermehrt hat, bewohnbar und, durch die      
  31 Fettigkeit der hohen Gegenden gedüngt, fruchtbarer als diese wird.      
           
  32 Durch diese fortschreitende Bildung und die Veränderung, die die      
  33 Gestalt der Erde erleidet, werden die tiefere Gegenden bewohnbar,      
  34 wenn die Höhen es bisweilen aufhören zu sein. Allein dieser Wechsel      
  35 betrifft nur vornehmlich einige Länder, die nämlich Mangel an dem      
  36 Wasser des Himmels erleiden und daher ohne das periodische Überschwemmen      
  37 der nöthigen Feuchtigkeit entbehren und eine unbewohnte      
           
     

[ Seite 200 ] [ Seite 202 ] [ Inhaltsverzeichnis ]