Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 354 |
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Text (Kant):
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| 01 | der Vernunft. Nun sieht sie klärlich, daß die Sinnenwelt diese Vollendung | ||||||
| 02 | nicht enthalten könne, mithin eben so wenig auch alle jene Begriffe, die | ||||||
| 03 | lediglich zum Verständnisse derselben dienen: Raum und Zeit und alles, | ||||||
| 04 | was wir unter dem Namen der reinen Verstandesbegriffe angeführt haben. | ||||||
| 05 | Die Sinnenwelt ist nichts als eine Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter | ||||||
| 06 | Erscheinungen, sie hat also kein Bestehen für sich, sie ist eigentlich | ||||||
| 07 | nicht das Ding an sich selbst und bezieht sich also nothwendig auf das, | ||||||
| 08 | was den Grund dieser Erscheinung enthält, auf Wesen, die nicht blos als | ||||||
| 09 | Erscheinung, sondern als Dinge an sich selbst erkannt werden können. In | ||||||
| 10 | der Erkenntniß derselben kann Vernunft allein hoffen, ihr Verlangen nach | ||||||
| 11 | Vollständigkeit im Fortgange vom Bedingten zu dessen Bedingungen einmal | ||||||
| 12 | befriedigt zu sehen. | ||||||
| 13 | Oben (§ 33, 34) haben wir Schranken der Vernunft in Ansehung | ||||||
| 14 | aller Erkenntniß bloßer Gedankenwesen angezeigt; jetzt, da uns die transscendentale | ||||||
| 15 | Ideen dennoch den Fortgang bis zu ihnen nothwendig machen | ||||||
| 16 | und nur also gleichsam bis zur Berührung des vollen Raumes (der Erfahrung) | ||||||
| 17 | mit dem leeren (wovon wir nichts wissen können, den Noumenis ) | ||||||
| 18 | geführt haben, können wir auch die Grenzen der reinen Vernunft bestimmen; | ||||||
| 19 | denn in allen Grenzen ist auch etwas Positives (z. B. Fläche ist die | ||||||
| 20 | Grenze des körperlichen Raumes, indessen doch selbst ein Raum, Linie ein | ||||||
| 21 | Raum, der die Grenze der Fläche ist, Punkt die Grenze der Linie, aber | ||||||
| 22 | doch noch immer ein Ort im Raume), dahingegen Schranken bloße Negationen | ||||||
| 23 | enthalten. Die im angeführten §ph angezeigte Schranken sind | ||||||
| 24 | noch nicht genug, nachdem wir gefunden haben, daß noch über dieselbe | ||||||
| 25 | etwas (ob wir es gleich, was es an sich selbst sei, niemals erkennen werden) | ||||||
| 26 | hinausliege. Denn nun frägt sich: wie verhält sich unsere Vernunft | ||||||
| 27 | bei dieser Verknüpfung dessen, was wir kennen, mit dem, was wir nicht | ||||||
| 28 | kennen und auch niemals kennen werden? Hier ist eine wirkliche Verknüpfung | ||||||
| 29 | des Bekannten mit einem völlig Unbekannten (was es auch jederzeit | ||||||
| 30 | bleiben wird), und wenn dabei das Unbekannte auch nicht im Mindesten | ||||||
| 31 | bekannter werden sollte - wie denn das in der That auch nicht zu hoffen | ||||||
| 32 | ist -, so muß doch der Begriff von dieser Verknüpfung bestimmt und zur | ||||||
| 33 | Deutlichkeit gebracht werden können. | ||||||
| 34 | Wir sollen uns denn also ein immaterielles Wesen, eine Verstandeswelt | ||||||
| 35 | und ein höchstes aller Wesen (lauter Noumena) denken, weil die Vernunft | ||||||
| 36 | nur in diesen als Dingen an sich selbst Vollendung und Befriedigung | ||||||
| 37 | antrifft, die sie in der Ableitung der Erscheinungen aus ihren | ||||||
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