Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 352 |
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Text (Kant):
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| 01 | ohne zu fragen, was denn die Seele eigentlich sei, und wenn kein Erfahrungsbegriff | ||||||
| 02 | hiezu zureicht, allenfalls einen Vernunftbegriff (eines einfachen | ||||||
| 03 | immateriellen Wesens) blos zu diesem Behuf anzunehmen, ob wir | ||||||
| 04 | gleich seine objective Realität gar nicht darthun können? Wer kann sich bei | ||||||
| 05 | der bloßen Erfahrungserkenntniß in allen kosmologischen Fragen von der | ||||||
| 06 | Weltdauer und Größe, der Freiheit oder Naturnothwendigkeit befriedigen, | ||||||
| 07 | da, wir mögen es anfangen, wie wir wollen, eine jede nach Erfahrungsgrundsätzen | ||||||
| 08 | gegebene Antwort immer eine neue Frage gebiert, die eben so | ||||||
| 09 | wohl beantwortet sein will und dadurch die Unzulänglichkeit aller physischen | ||||||
| 10 | Erklärungsarten zur Befriedigung der Vernunft deutlich darthut? Endlich, | ||||||
| 11 | wer sieht nicht bei der durchgängigen Zufälligkeit und Abhängigkeit | ||||||
| 12 | alles dessen, was er nur nach Erfahrungsprincipien denken und annehmen | ||||||
| 13 | mag, die Unmöglichkeit, bei diesen stehen zu bleiben, und fühlt sich nicht | ||||||
| 14 | nothgedrungen, unerachtet alles Verbots, sich nicht in transscendente | ||||||
| 15 | Ideen zu verlieren, dennoch über alle Begriffe, die er durch Erfahrung | ||||||
| 16 | rechtfertigen kann, noch in dem Begriffe eines Wesens Ruhe und Befriedigung | ||||||
| 17 | zu suchen, davon die Idee zwar an sich selbst der Möglichkeit nach | ||||||
| 18 | nicht eingesehen, obgleich auch nicht widerlegt werden kann, weil sie ein | ||||||
| 19 | bloßes Verstandeswesen betrifft, ohne die aber die Vernunft auf immer | ||||||
| 20 | unbefriedigt bleiben müßte. | ||||||
| 21 | Grenzen (bei ausgedehnten Wesen) setzen immer einen Raum voraus, | ||||||
| 22 | der außerhalb einem gewissen bestimmten Platze angetroffen wird und ihn | ||||||
| 23 | einschließt; Schranken bedürfen dergleichen nicht, sondern sind bloße Verneinungen, | ||||||
| 24 | die eine Größe afficiren, so fern sie nicht absolute Vollständigkeit | ||||||
| 25 | hat. Unsre Vernunft aber sieht gleichsam um sich einen Raum für die | ||||||
| 26 | Erkenntniß der Dinge an sich selbst, ob sie gleich von ihnen niemals bestimmte | ||||||
| 27 | Begriffe haben kann und nur auf Erscheinungen eingeschränkt ist. | ||||||
| 28 | So lange die Erkenntniß der Vernunft gleichartig ist, lassen sich von | ||||||
| 29 | ihr keine bestimmte Grenzen denken. In der Mathematik und Naturwissenschaft | ||||||
| 30 | erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, | ||||||
| 31 | d. i. zwar daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen | ||||||
| 32 | kann, aber nicht daß sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet | ||||||
| 33 | sein werde. Die Erweiterung der Einsichten in der Mathematik und | ||||||
| 34 | die Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche; eben so die | ||||||
| 35 | Entdeckung neuer Natureigenschaften, neuer Kräfte und Gesetze durch fortgesetzte | ||||||
| 36 | Erfahrung und Vereinigung derselben durch die Vernunft. Aber | ||||||
| 37 | Schranken sind hier gleichwohl nicht zu verkennen, denn Mathematik geht | ||||||
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