Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 340

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 allenfalls die jetzt bestehende Verfassung mit Gewalt abzuändern, ist sträflich.      
  02 Denn diese Umänderung müßte durchs Volk, welches sich dazu      
  03 rottirte, also nicht durch die Gesetzgebung, geschehen; Meuterei aber in      
  04 einer schon bestehenden Verfassung ist ein Umsturz aller bürgerlich=rechtlichen      
  05 Verhältnisse, mithin alles Rechts, d. i. nicht Veränderung der      
  06 bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung derselben, und dann der Übergang      
  07 in die bessere nicht Metamorphose, sondern Palingenesie, welche einen      
  08 neuen gesellschaftlichen Vertrag erfordert, auf den der vorige (nun aufgehobene)      
  09 keinen Einfluß hat. - Es muß aber dem Souverän doch möglich      
  10 sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee      
  11 des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist, und hiebei doch diejenige      
  12 Form bestehen zu lassen, die dazu, daß das Volk einen Staat ausmache,      
  13 wesentlich gehört. Diese Veränderung kann nun nicht darin bestehen,      
  14 daß der Staat sich von einer dieser drei Formen zu einer der beiden      
  15 anderen selbst constituirt, z. B. daß die Aristokraten einig werden, sich      
  16 einer Autokratie zu unterwerfen, oder in eine Demokratie verschmelzen zu      
  17 wollen, und so umgekehrt; gleich als ob es auf der freien Wahl und dem      
  18 Belieben des Souveräns beruhe, welcher Verfassung er das Volk unterwerfen      
  19 wolle. Denn selbst dann, wenn er sich zu einer Demokratie umzüandern      
  20 beschlösse, würde er doch dem Volk unrecht thun können, weil es      
  21 selbst diese Verfassung verabscheuen könnte und eine der zwei übrigen für      
  22 sich zuträglicher fände.      
           
  23 Die Staatsformen sind nur der Buchstabe ( littera ) der ursprünglichen      
  24 Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande, und sie mögen also bleiben,      
  25 so lange sie, als zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend, durch      
  26 alte und lange Gewohnheit (also nur subjectiv) für nothwendig gehalten      
  27 werden. Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages ( anima pacti      
  28 originarii ) enthält die Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt, die      
  29 Regierungsart jener Idee angemessen zu machen und so sie, wenn es      
  30 nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und continuirlich dahin zu      
  31 verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der      
  32 einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme, und jene      
  33 alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die Unterthänigkeit      
  34 des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen,      
  35 welche allein die Freiheit zum Princip, ja zur Bedingung alles      
  36 Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung im eigentlichen Sinne      
  37 des Staats erforderlich ist und dahin auch dem Buchstaben nach endlich      
           
     

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