Kant: Briefwechsel, Brief 57, An Iohann Heinrich Lambert.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Iohann Heinrich Lambert.      
           
  2. Sept. 1770.      
           
  Hochedelgebohrner Herr      
  Hochzuehrender Herr Professor      
           
  Ich bediene mich der Gelegenheit, die sich darbietet Ew: Hochedelgeb:      
  meine dissertation durch den respondenten bey derselben, einen      
  geschickten jüdischen studiosum, zu übersenden, um zugleich eine mir      
  unangenehme Misdeutung meiner so lange Zeit verzögerten Antwort      
  auf Dero schätzbares Schreiben wo möglich zu vertilgen. Es war      
  nichts anderes, als die Wichtigkeit des Anschlages, der mir aus dieser      
  Zuschrift in die Augen leuchtete, welche den langen Aufschub einer      
  dem Antrage gemäßen Antwort veranlassete. Da ich in derienigen      
  Wissenschaft, worauf Sie damals Ihre Achtsamkeit richteten, lange      
  Zeit gearbeitet hatte, um die Natur derselben und wo möglich ihre      
  unwandelbare und evidente Gesetze auszufinden so konte mir nichts      
  erwünschter seyn, als daß ein Mann von so entschiedener Scharfsinnigkeit      
  und Allgemeinheit der Einsichten, dessen methode zu dencken      
  ich überdem ofters mit den meinigen eintreffend befunden hatte, seine      
           
  Bemühung darbot, mit vereinigten Prüfungen und Nachforschungen      
  den Plan zu einem sicheren Gebäude zu entwerfen. Ich konte mich      
  nicht entschließen etwas minderes, als einen deutlichen Abris von der      
  Gestalt darinn ich diese Wissenschaft erblicke und eine bestimte Idee      
  der eigenthümlichen Methode in derselben zu überschicken. Die Ausführung      
  dieses Vorhabens flochte mich in Untersuchungen ein, die mir      
  selbst neu waren und bey meiner ermüdenden academischen Arbeit      
  einen Aufschub nach dem andern nothwendig machte. Seit etwa einem      
  Iahre bin ich, wie ich mir schmeichle, zu demienigen Begriffe gekommen      
  welchen ich nicht besorge iemals ändern, wohl aber erweitern zu dürfen      
  und wodurch alle Art methaphysischer quaestionen nach ganz sichern      
  und leichten criterien geprüft und, in wie fern sie auflöslich sind oder      
  nicht, mit Gewisheit kan entschieden werden.      
           
  Der Abris dieser ganzen Wissenschaft, so ferne er die Natur      
  derselben, die ersten Quellen aller ihrer Urtheile und die Methode      
  enthält nach welcher man leichtlich selbst weiter gehen kan, könte in      
  einem ziemlich kurzen Raume nemlich in einigen wenigen Briefen      
  Ihrer gründlichen und belehrenden Beurtheilung vorgelegt werden, und      
  dieses ist es auch, wovon ich mir eine vorzügliche Wirkung verspreche      
  und wozu ich mir die Erlaubnis hiedurch besonders ausbitte. Allein,      
  da in einer Unternehmung von solcher Wichtigkeit einiger Aufwand      
  der Zeit gar kein Verlust ist, wenn man dagegen etwas vollendetes      
  und dauerhaftes liefern kan, so muß ich noch bitten das schöne      
  Vorhaben diesen Bemühungen beyzutreten vor mich noch immer      
  unverändert zu erhalten und indessen der Ausführung desselben noch      
  einige Zeit zu verwilligen. Ich habe mir vorgesetzt, um mich von      
  einer langen Unpäslichkeit die mich diesen Sommer über mitgenommen      
  hat zu erholen, und gleichwohl nicht ohne Beschäftigung in den Nebenstunden      
  zu seyn, diesen Winter meine Untersuchungen über die reine      
  moralische Weltweisheit, in der keine empirische principien anzutreffen      
  sind u. gleichsam die Metaphysic der Sitten, in Ordnung zu bringen      
  u. auszufertigen, Sie wird in vielen Stücken den wichtigsten Absichten      
  bey der veränderten Form der Metaphysick den Weg bähnen, und      
  scheinet mir überdem bey denen zur Zeit noch so schlecht entschiedenen      
  principien der practischen Wissenschaften eben so nöthig zu seyn. Nach      
  Vollendung dieser Arbeit werde ich mich der Erlaubnis bedienen die      
  Sie mir ehedem gaben, meine Versuche in der metaphysic, so weit      
           
  ich mit denselben gekommen bin, Ihnen vorzulegen, mit der festen Versicherung      
  keinen Satz gelten zu lassen, der nicht in Ihrem Urtheil      
  vollkommene evidentz hat; denn wenn er diese Beystimmung sich nicht      
  erwerben kan, so ist der Zwek verfehlt, diese Wissenschaft außer allem      
  Zweifel auf gantz unstreitige Regeln zu gründen. Vorjetzt würde mir      
  Dero einsehendes Urtheil über einige Hauptpunkte meiner dissertation      
  sehr angenehm und auch unterweisend seyn, weil ich ein paar Bogen      
  noch dazu zu thun gedenke, um sie auf künftige Messe auszugeben,      
  darinn ich die Fehler der Eilfertigkeit verbessern und meinen Sinn      
  besser bestimmen will. Die erste u. vierte section können als unerheblich      
  übergangen werden, aber in der zweyten dritten und fünften,      
  ob ich solche zwar wegen meiner Unpäslichkeit gar nicht zu meiner      
  Befriedigung ausgearbeitet habe, scheint mir eine Materie zu liegen      
  welche wohl einer sorgfältigern und weitläuftigeren Ausführung würdig      
  wäre. Die allgemeinsten Gesetze der Sinnlichkeit spielen fälschlich in der      
  Metaphysic, wo es doch blos auf Begriffe und Grundsätze der reinen      
  Vernunft ankömt, eine große Rolle. Es scheinet eine ganz besondere,      
  obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis) vor      
  der Metaphysic vorher gehen zu müssen, darinn denen principien der      
  Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit      
  sie nicht die Urtheile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren,      
  wie bis daher fast immer geschehen ist. Denn Raum und Zeit und      
  die Axiomen alle Dinge unter den Verhältnissen derselben zu betrachten,      
  sind in Betracht der empirischen Erkentnisse und aller      
  Gegenstände der Sinne sehr real und enthalten wirklich die conditionen      
  aller Erscheinungen und empirischen Urtheile. Wenn aber etwas gar      
  nicht als ein Gegenstand der Sinne, sondern durch einen allgemeinen      
  u. reinen Vernunftbegrif, als ein Ding oder eine substantz überhaupt,      
  etc. gedacht wird so kommen sehr falsche positionen heraus, wenn man      
  sie den gedachten Grundbegriffen der Sinnlichkeit unterwerfen will.      
  Mir scheint es auch, und vielleicht bin ich so glücklich durch diesen      
  obgleich noch sehr mangelhaften Versuch Ihre Beystimmung darinn zu      
  erwerben, daß sich eine solche propaedevtische disciplin, welche die      
  eigentliche metaphysic von aller solcher Beymischung des Sinnlichen      
  praeservirte, durch nicht eben große Bemühungen zu einer brauchbaren      
  Ausführlichkeit und evidentz leichtlich bringen ließe      
           
  Ich erbitte mir aufs künftige Dero Freundschaft und günstige      
           
  Theilnehmung an meinen wiewohl noch gringen Bemühungen in      
  Wissenschaften und wenn es mir erlaubt ist vor den, der Ihnen      
  diese ergebenste Zuschrift überreicht, HEn Marcus Herz, die Freyheit      
  zu erbitten sich bisweilen an Sie wegen seiner Studien wenden zu      
  dürfen, so kan ich ihn als einen wohlgesitteten sehr fleißigen und      
  fähigen jungen Menschen empfehlen bey dem ein jeder gute Rath von      
  gewisser Befolgung u. Nutzen ist. Ich bin mit der größesten Hochachtung      
       
           
    Ew: Hochedelgeb.      
  Koenigsberg        
  d 2ten Sept: ergebenster Diener      
  1770. I. Kant      
           
           
           
     

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