Kant: Briefwechsel, Brief 463, Von Christian Gotthilf Herrmann.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Christian Gotthilf Herrmann.      
           
  Erfurth am 10ten Febr. 1791      
           
  Wohlgebohrner!      
  Insonders hochgeehrtester Herr!      
  Schon im vorigen Iahr, während meinen Vorlesungen über die      
  Aesthetik, in Bezug auf Ihre Grundsätze, wollte ich mich, als ein      
           
  Ihnen gänzlich Unbekanter, unterstehen, Sie mit einem Brief zu belästigen;      
  allein ein bloses Missverständnis, das aber nunmehr gehoben,      
  würde der Grund gewesen seyn, Ihnen, wenn Sie mich anders einer      
  Antwort gewürdiget, eine Lücke in Ihren weit wichtigern Geschäften      
  zu verursachen. Durch beigelegte Piece, mögte es den Anschein gewinnen,      
  als dürfte ich mich ietzo etwas zuversichtlicher unterstehen,      
  Sie zu belästigen: zum wenigsten sehen Sie doch hieraus, wie sehr es      
  mir um die gute Sache ein Ernst ist. Ihre allgemein bekante Güte      
  lässt mich deswegen auch Verzeihung dafür hoffen, wenn ich mich      
  erkühne, Ihnen diese Piece zu überliefern. Sie gehört ganz vor Ihr      
  Forum; und auch nur Sie erkenne ich in dieser Sache für den einzig      
  kompetenten Richter. Ich habe mich, so viel es der Raum gestatten      
  wollte, bemüht, Ihre Grundsätze zu entwickeln; eben so wie ich gesucht      
  habe, die hemsterhuisische Definition unter die ihr nöthige Einschränkung      
  zu bringen. Ob ich aber meinen Endzweck erreicht? Durch welche      
  Mittel? ob ich überhaupt Ihre Grundsätze recht verstanden, und richtig      
  angewand habe? Dies ist nunmehr die grose Frage! -      
           
  Wahrheit war von ie her das grose Ziel, wornach ich strebte;      
  und sollten Sie wohl unwillig darüber werden, wenn ich sage, dass      
  ich es Ihnen vor vielen andern zutraue mich in ihr Heiligthum zu      
  führen? ich glaube nicht! zumahl wenn ich noch hinzufüge, dass      
  ich bereit bin, ein jedes Urtheil von Ihnen willig anzuhören, es falle      
  auch aus, wie es wolle. Denn ein einziger Winck von Ihnen, ist      
  mir lieber, als alle öffentliche Rezensionen.      
           
  Ich gestehe es nochmals, mein Ansinnen hat viel Auffallendes,      
  ich hoffe aber dasselbe einigermaßen dadurch zu mindern, wenn ich      
  Sie versichere, dass niemand mehr Hochachtung gegen Sie heegen      
  kann als      
           
    Ewr Wohlgebohr.      
  Erfurth den 10ten Febr. ganz gehorsamster Diener      
  1791 Christian Gotthilf Herrmann.      
  N. S. N. S.      
           
  Es wird Sie gewis interessiren, wenn ich Ihnen sage, dass unser      
  gnädigster HE. Coadjutor eine Abhandlung mit dem Titel "Ueber die      
  Grundsätze der Aesthetik" unter die Presse gegeben. Der erlauchte      
  Verfasser hatte die Gnade mir dieselbe zum Durchlesen zu geben: und      
           
  ich muss gestehen, dass ich lange nichts vortreflicheres und so tief      
  durchdachtes gelesen habe. Ueberhaupt werden wenig Mäner in      
  Deutschland seyn, die Ihr System so oft durchlesen, und so tief durchdacht      
  haben, als unser HE. Coadjutor. So oft ich das Glück habe      
  mit diesen grosen Musageten zu sprechen, so oft reden wir von Ihnen,      
  und von Ihren Schriften; und schon manche Zeit ist über den Gespräch      
  verstrichen, um immer tiefer in Ihren Geist einzudringen.      
           
           
           
     

[ abgedruckt in : AA XI, Seite 249 ] [ Brief 462 ] [ Brief 464 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ]