Kant: Briefwechsel, Brief 394, Von Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter.      
           
  15. Dec. 1789.      
           
  Theuerster Herr Professor,      
  Ich muß mich in der That schämen, daß ich erst jetzt Ihren      
  lieben Brief beantworte, der mir außerordentlich viel Freude gemacht      
  hat, weil er mir einen untrüglichen Beweis gab, daß Sie mich Ihrer      
  Freundschaft nicht unwerth halten; aber eine Menge Geschäfte haben      
  mich vom Schreiben abgehalten.      
           
  Meine Lage ist so gut, als ich sie nur immer wünschen kann;      
  meine Vorlesungen über die Logik und über die Crit. d. p. V. werden      
  ziemlich stark besucht, so daß ich in der erstern ungefähr 20, in der      
  letztern 25 Zuhörer habe, und ob gleich nicht alle bezahlen, so denke      
           
  ich doch, daß mir beide Collegia zusammen 100 Thlr. einbringen      
  werden. Logik lese ich über eigene Dictata, Crit. über des Herrn Prof.      
  Buch, das diesen Gegenstand abhandelt. So viel ich weiß, ist man      
  mit meinem Vortrage zufrieden und dis muß mir um so angenehmer      
  sein, da ich mehrere Geschäftsmänner zu Zuhörern habe. Ferner lese      
  ich der Oberhofmeisterin der Prinzessin Auguste, der Baronesse von      
  Bielefeld täglich von 8 bis 9 Uhr Anthropologie; und eben diese Vorlesungen      
  halte ich 4 Stunden wöchentlich dem Sohn des Buchhändler      
  Nicolai, dem Schwiegersohn d. H. C. G. R. Klein. Auch gebe ich      
  täglich eine Stunde Unterricht in der Mathematik und lese endlich mit      
  C. G. R. Mayer noch den Xenophon. - Sie sehen hieraus, theuerster      
  Herr Professor, daß ich über Mangel an Geschäfte nicht zu klagen      
  habe und daß ich mir auch meinen Unterhalt verschaffe; aber ich fürchte      
  nur, daß ich es bei meinem schwächlichen Körper nicht lange werde      
  aushalten können, und ich habe daher auf Mittel gedacht, mir den      
  Erwerb meines Unterhalts zu erleichtern. Durch die Baronesse von      
  Bielefeld, die bei Hofe viel gilt, denke ich mit dem Hofe selbst in nähere      
  Verbindung zu treten, und vielleicht Lehrer der Prinzessin Auguste zu      
  werden. Diese Stelle ist um so wichtiger, da mit ihr eine lebenslängliche      
  Pension verknüpft ist. Ferner hat mir der Kanzler von Hoffmann,      
  der O. C. R. v. Irrwing, die Baronesse von Bielefeld versprochen, bei      
  der ersten Vacanz einer Feldpredigerstelle in Berlin ihr ganzes Ansehen      
  für mich zu verwenden. Wie ich mit dem Minister von Wöllner      
  stehe? fragen Sie. Ich habe ihn gesprochen, und er hat mich seiner      
  Gnade in den prunkvollsten Ausdrücken versichert, aber diese Versicherung      
  geschah so geläufig, daß ich fürchten muß, daß er sie jedem, der      
  ihm aufwartet, thut. Man warnte mich, mich in meinen Vorlesungen      
  in Acht zu nehmen, weil man mir auflauern laßen würde, ob ich      
  etwas gegen die Religion vorbrächte, und rieth mir, beiläufig zu erinnern,      
  die kantische Philosophie sei dem Christenthum nicht zuwider.      
  Diesen Wink nutzte ich in der ersten Vorlesung über die Crit. d. pract.      
  V., und nannte unter den Titeln der ganzen Vorlesung auch die Uebereinstimmung      
  des formalen Gesetzes mit den Lehren des Christenthums.      
  Wirklich war ein junger Mensch gegenwärtig, der wörtlich meinen      
  ganzen Vortrag nachschrieb, und durch seine emsige Aengstlichkeit die      
  Aufmerksamkeit aller auf sich zog; und der auch nicht wieder kam.      
  Der O. C. R. von Irrwing gilt viel bei Wöllner, und dieser versichert      
           
  mich, er sei mein Freund. Durch den Kanzler von Hoffmann kann      
  ich weniger bei ihm ausrichten, denn ob sie gleich äußerlich in einem      
  guten Vernehmen zu stehen scheinen, so ist doch dis wirklich der Fall      
  nicht, weil Hoffmann Vertrauter des Prinzen Heinrich ist und Heinrich      
  Wöllner haßt.      
           
  Sehr unangenehm war es mir, als ich in dem Briefe eines      
  Ministers (Wöllners) an den König, (den wie man hier allgemein      
  sagt, Zedlitz geschrieben hat) die Stelle las, die Sie und Ihre Anhänger      
  betrift. Da ich mit Wahrscheinlichkeit voraussetzen kann, da      
  Sie das Buch gelesen haben, so setze ich die Stelle nicht her. Sollten      
  Ew. Wohlgebohrn aber das Buch noch nicht gelesen haben und es in      
  Königsberg auch nicht erhalten können, so dürfen Sie nur befehlen      
  und ich werde es Ihnen mit erster Post schicken. - Wöllners Ansehen      
  soll nicht mehr so ganz fest stehen, doch werden wir bei einer Veränderung      
  nicht viel gewinnen, wenn, wie es doch sehr wahrscheinlich      
  ist, der Geheimerath Lamprecht seine Stelle erhält. - Zedlitz setzt      
  eine reiche Erbschaft, die er ganz unverhoft gethan hat, in den Stand      
  ganz unabhängig zu leben; ich muß gestehen, daß es mir äußerst      
  wehe that, als ich erfuhr, daß er seine Dimission verlangt hatte, denn      
  ich bin überzeugt, daß er mir wohlwollte. Er will nach England      
  reisen, hat aber das Unglück gehabt in einem Anfall von Epilepsie      
  sich eine gefährliche Wunde am Kopfe zu schlagen.      
           
  Der Geheimerath Oelrichs hat mich dem Minister Herzberg vorgestellt,      
  der mich sehr gnädig aufnahm, zur Tafel zog, und sehr vieles      
  zu Ihrem Lobe sagte.      
           
  Was die Sitzungen des O[ber]S[chul]C[ollegium] betrift, so      
  ist bis jetzt wenig vorgenommen, man hat sich fast allein damit beschäftigt,      
  zu bestimmen, bis auf welche Lehrer man das Gesetz ausdehnen      
  könne, daß die Kinder der Schullehrer vom Soldatenstande      
  befreit sein sollten. Ew. Wohlgebohrn können leicht denken, daß ich      
  alles, was ich bei dem Kanzler vermag, anwenden werde, um das      
  durchzusetzen, was Sie in Ansehung der königsbergischen Schulen      
  wünschen.      
           
  Der Prof. Herz hat mir aufgetragen, Ihnen in seinem Namen      
  ein verbindliches Compliment zu machen. Ich bin gewöhnlich des      
  Freitags bei ihm zum Thee und zum Abendessen und ich muß gestehen,      
  daß ich bei ihm viele Freuden genieße. Er ist gewiß einer Ihrer      
           
  wärmsten Verehrer. Maimon habe ich bei ihm kennen gelernt. Sein      
  äußeres verspricht nicht viel, um so mehr, da er wenig und schlecht      
  spricht. Ich habe seine Transcendentalphilosophie zu lesen angefangen,      
  bin aber noch nicht weit fortgerückt; doch bin ich schon gleich Anfangs      
  nicht seiner Meinung; auch mangelt ihm, wie es mir scheint, sehr oft      
  Präcision.      
           
  Über HE Reinholds Theorie des Erkenntnißvermögens ist das      
  hiesige Publikum getheilt, ein Theil lobt das Buch außerordentlich,      
  ein anderer Theil findet mehreres daran zu tadeln. Ich kann immer      
  noch nicht so viel Zeit gewinnen das Buch zu Ende zu lesen, doch      
  bin ich mit dem Verfasser nicht überall einerlei Meinung, und oft      
  scheinen mir auch seine Beweise mangelhaft. Dis letztere ist z. B. der      
  Fall, bei dem Beweise, den er Seite 282 von dem Satze gegeben hat,      
  Mannigfaltigkeit ist das Criterium des Stofs der Vorstellung.      
  Er sagt nämlich, in der vom Subject zu unterscheidenden      
  Vorstellung muß sich etwas unterscheiden laßen, und dasjenige in ihr,      
  was sich unterscheiden läßt, kann nur der Stof sein, und alles was      
  in der Vorstellung Stof ist, muß sich unterscheiden laßen, d. h. mannigfaltig      
  sein. Mir ist dieser Beweis äußerst unverständlich und läßt      
  wie ich glaube mehrere Einwürfe zu; HE Reinhold der über manche      
  andere Dinge von weit geringerer Wichtigkeit sich so erschrecklich weitläuftig      
  ausgebreitet hat, ist hier kurz u. dunkel. Mir scheint folgender      
  Beweis, den ich Ew: Wohlgebohrn zur Prüfung vorlege, leichter und      
  verständlicher zu sein. Ieder Stof, wenn er Vorstellung werden soll,      
  muß durch mein Vorstellungsvermögen Form erhalten, diese Form ist      
  nichts anders als Verknüpfung, Verknüpfung setzt Mannigfaltiges      
  voraus, was verknüpft werden kann, folglich muß in jeder Vorstellung      
  Mannigfaltiges enthalten sein. - HE Reinhold nimmt sich bei diesem      
  Buche etwas sonderbar; unter andern hat er an D. Biester geschrieben,      
  er möchte sich doch das Buch kaufen, es lesen und es gegen die Rec.      
  die in der A. D. Bibl. davon erscheinen könnte, in Schutz nehmen.      
  Ich würde dis kaum glauben, wenn es D. Biester mir nicht selbst      
  erzählt hätte. Auch weiß ich, daß er unzufrieden darüber gewesen ist,      
  daß Sie ihm über dis Buch noch nichts geschrieben haben.      
           
  Ich habe jetzt durch meine Vorlesungen von neuem Gelegenheit      
  gehabt, über die Lehre vom R[aum] und Z[eit] nachzudenken, und da      
  ist es mir vorgekommen, als wenn man sich durch folgenden Gang      
           
  im Beweise die Sache sehr erleichtern könnte. Ich unterscheide die      
  Vorstellung vom Raum, und Raum selbst, sie sind unterschieden, wie Vorstellung      
  und Vorgestelltes. Zuerst also die Frage, was ist die Vorstellung      
  vom Raum? - Anschauung oder Begrif muß sie sein. Begrif kann      
  sie nicht sein, weil aus ihr synthetische Sätze fließen, sie ist also Anschauung.      
  Nun frage ich ferner, ist sie a pr[iori] oder a post[eriori] ?      
  A post. kann sie nicht sein, weil sie nothwendig ist, und die Sätze die      
  aus ihr hergeleitet werden, apodictische Gewisheit bei sich führen.      
  Sie ist also reine Anschauung a priori . Was ist nun aber der Raum?      
  Ein Ding an sich, oder eine objective Beschaffenheit der Dinge an      
  sich kann er nicht sein, denn sonst wäre die Vorstellung von ihm empirisch;      
  die Vorstellung von ihm muß also in der subjectiven Beschaffenheit      
  unseres Erkenntnißvermögen ihren Grund haben; da sie Anschauung      
  ist, muß sie in der Sinnlichkeit gegründet sein, und da sie      
  sich nur bei den Gegenständen des äußern Sinnes findet, durch den      
  äußern Sinn gegeben sein. Unser Erkenntnißvermögen giebt uns      
  a priori nur die Form, nicht Materie, folglich ist der Raum die Form      
  des äußern Sinnes. - Wollte[n] Sie, theuerster Mann, wohl die Güte      
  haben, mir über diesen Gang Ihre Meinung zu sagen.      
           
  Das Manipuliren macht hier gewaltiges Aufsehen; aus beiliegendem      
  Aufsatze werden Ew. Wohlgebohrn sehen, wie weit die Sache      
  schon gegangen ist. Die Bekanntschaft des Pred. Schleemüller verschaft      
  mir Gelegenheit selbst Versuche anzustellen, und ich habe auch dis,      
  wie Sie finden werden, schon gethan. Betrügerei steckt offenbar      
  dahinter; nur von wem der Betrug ausgegangen ist, ist schwer zu      
  entdecken. Prof. Selle scheint es mir nicht zu sein; vielleicht der      
  Pensionär Lohmeier; oder vielleicht gar eine andere vornehme Person,      
  die an unserm Hofe keine unbeträchliche Rolle spielt und die ein Mitglied      
  der strasburgischen magnetischen Gesellschaft ist; wenigstens hat      
  er selbst Anleitung zum bequemen Magnetisiren ertheilt. - Ich habe      
  meine Versuche ohne Selles Vorwissen angestellt und daher darf ich      
  nichts davon public werden laßen, weil sonst Schleemüller compromittirt      
  werden könnte. - Wenn es Ihnen gefällig wäre, mir einige      
  Versuche vorzuschlagen, die ich anstellen könnte, so würden Sie mich      
  außerordentlich verbinden. Vorzüglich wichtig ist mir die Frage:      
  Giebt es Criterien, woran man erkennen kann, ob jemand schläft      
  oder sich nur so stellt? und wenn es dergleichen giebt, welches sind      
           
  sie? aber ich glaube, daß es dergleichen unbezweifelte Criterien nicht      
  giebt.      
           
  Verzeihen Sie, innigstgeliebter und verehrter Mann, wenn ich      
  Ihnen durch mein Geschwätz ein halbes Stündchen geraubt habe; es      
  ist mir eine unbeschreibliche Wonne, mich, wenn gleich jetzt nur schriftlich,      
  mit einem Manne unterhalten zu können, der mein ganzes Herz      
  besitzt und den ich über alles liebe. Ich denke nie, ohne die innigste      
  Rührung an das Glück, das ich in Ihrem Umgange genoß, und rufe      
  unendlich oft die Vergangenheit in mein Gedächtniß zurück; und wenn      
  ich Ihnen doch nur einmal so ganz sagen könnte, was ich für Sie empfinde,      
  und wie sehr ich es zu schätzen weiß, was ich Ihnen verdanke.      
  Ihrem verehrungswürdigen Freunde, HE Prof. Krause mein wärmstes      
  Compliment; sagen Sie ihm, daß ich stolz darauf sein werde, wenn er      
  mir seine Achtung und Freundschaft schenkt. - Ihrer Liebe und Ihrem      
  Wohlwollen empfehle ich mich auf das beste und bin unveränderlich      
           
    Ihr      
    aufrichtigster Verehrer      
  Berlin den 15t November 1789. I G C Kiesewetter.      
           
  N. S. Hierbei erfolgen die Druckfehler in der Crit. der pract.      
  Vernunft.      
           
  Den 17t November. Der Kanzler von Hoffmann, den ich soeben      
  gesprochen habe, läßt sich Ihnen recht sehr empfehlen.      
           
           
           
     

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