Kant: Briefwechsel, Brief 214, Von Friedrich Victor Leberecht Plessing.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Friedrich Victor Leberecht Plessing.      
           
  15. Oct. 1783.      
           
  Wohlgeborner Hochgelahrter Herr,      
  Verehrungswürdigster Menschenfreund,      
  Zu was für einen mich so demüthigenden Verdacht, werde ich      
  durch mein langes Stillschweigen bei Ew. Wohlgeb. nicht Gelegenheit      
  gegeben haben? - Aber o darf ich mich wohl mit der Hoffnung      
  schmeicheln, bei Ihnen noch in einem solchen Zutraun zu stehn, da      
  Sie mir glauben, wenn ich Ihnen aufs heiligste versichre: daß mein      
  Herz auf keine Weise an meinem langen Stillschweigen Schuld hat,      
  sondern daß eine Reihe von in einander gegründeter Verhältniße,      
  meinem besten Willen entgegen, daßelbe veranlaßt. - Mein Herz      
  wird von Unruhe und Zweifeln gequält: ach, sollten Sie in diesem      
  Stillschweigen, wohl Mangel an Achtung und Dankbarkeit zu finden      
  glauben? - Undankbarkeit ist ein so schändliches Laster - o sprechen      
  Sie mich von dem Verdacht deßelben frei! - Allein ich will mich nicht      
  ganz von aller Schuld frei sprechen. Vergeben Sie mir dann das,      
  worin ich schuld habe, als einen menschlichen Fehler. - - Doch hören      
  Sie mich, wie es mit mir gestanden, seitdem Sie meinen leztern      
  Brief aus Berlin erhalten, auf den Sie mit so vieler Großmut      
  Rüksicht genommen haben, daß ich dadurch mehr als bis zum Erstaunen      
  und zur Bewunderung hingerißen worden bin : Mein Auffenthalt      
  in Berlin daurete länger als ich dachte. Ich genoß daselbst die      
  gütigste und freundschaftlichste Aufnahme, besonders in den Häusern      
  des izzigen Geheimderath Dohms, Oberkonsistorialraths Irwing, Spalding,      
  Teller, Mendelsohn, Büsching, Nikolai u.s.w. Ich hatte freies      
  Logis, mein Auffenthalt war also mit wenigen Kosten verknüpft, und      
  eine so gute Gelegenheit konnte mir nicht leicht wieder dargebothen      
  werden, Berlin auf solche Weise zu nuzzen und zu genüßen. Meine      
  Berlinschen Freunde drangen in mich, meinen Auffenthalt zu verlängern:      
  meine Freunde nahmen mich auswärtig aufs Land, wo ich unter andern      
  bei dem Geheimderath Lamprecht sehr vergnügt zubrachte; so reiste ich      
  auch mit HE Dohm und Probst Teller nach Freyenwalde, wo wir      
  uns einige Tage bei HE Nikolai aufhielten, der eben dort ins Bad      
  hingegangen war, und uns zu sich hingebethen. Kurz, mein Auffenthalt      
           
  daurete bis in die letztern Tage des Iulius. Von da reiste ich      
  nach Potsdam, wo ich auch Freunde hatte, die, ob sie mich gleich noch      
  nicht gesehen, zu sich hingebethen hatten, und meiner erwarteten; von      
  Potsdam, wo ich gleichfals viel Liebe und Höflichkeit genoßen, ging      
  ich nach Magdeburg, wo ich bei dem Abt Resewitz die beste Aufnahme      
  fand. Erst im August kam ich also hier an: bald drauf zog ich mir      
  durch eine Erkältung, durch eine mit dem Direktor Gedike aus Berlin      
  gethane Reise nach dem Bloksberg, (:welches gleich nach meiner Ankunft      
  geschahe, indem derselbe fast zu gleicher Zeit mit mir hier ankam,      
  und ich ihm schon in Berlin versprochen, sein Begleiter auf den      
  Bloksberg zu seyn:) eine so heftige Kolik zu, die in eine Ruhr ausschlug,      
  daß ich daran über 14 Tage zu bringen mußte. Nun war      
  schon der Anfang des Septembers da, ohne daß ich bis dahin meiner      
  selbst mächtig gewesen war: izt aber erwartete eine dringende Arbeit      
  meiner, die mir jeden Tag jede Stunde wegnahm, und alle Gedanken      
  und Sinne ausfüllte. Bei meinem Auffenthalt in Berlin, fand ich      
  zu meinem Osiris und Sokrates einen Verleger, und der Akkord war      
  so: daß die Schrift noch diese Michaelis, nebst noch gewißen dazu      
  zu liefernden Zusäzzen, die ich nachschikken wollte, herauskommen sollte.      
  Ich mußte also diese Arbeit mit Macht und Eiffer anfangen zu treiben.      
  Wie ich dabei kam, so gerieth ich tiefer hinein, als ich gedacht, so,      
  daß diese Zusäzze vermuthlich auf 20 Bogen, gedrukt, steigen werden,      
  wie Sie dies werden selbst sehen können. Und so habe ich nun auf      
  6 Wochen lang Tag und Nacht ununterbrochen fortgearbeitet; wenn      
  ich einige Bogen fertig hatte, so schikte ich sie gleich nach Berlin in      
  die Drukkerei u.s.w.      
           
  Alle Tage dachte ich an Sie, mein großmütiger Wolthäter und      
  Freund, und diese Gedanken waren immer mit Angst und Unruhe      
  begleitet, daß ich noch nicht meine Pflicht erfüllt, und mein ganzes      
  Herz in Dank gegen Sie ausgeschüttet: jeden Tag wollte ich schreiben;      
  aber ich hatte noch so viele andre Briefe, die ich auch nach Preußen      
  ablaßen mußte, wegen der großen Weite, wollte ich sie alle auf einmahl      
  fortschikken: allein ich konnte gar nicht dahin kommen, mich so      
  viel von meiner Arbeit abzumüßigen, um zum Briefschreiben zu gelangen;      
  meine Ideen waren so ganz nur in einen Zirkel zusammengedrängt      
  - - Sehen Sie, edler, großmütiger Menschenfreund, durch      
  diese Ihnen hier beschriebenen Umstände, wurde ich so lange bis gegen      
           
  wärtig an der Erfüllung einer Pflicht verhindert, die in der That      
  aber doch so an mein Herz gebunden war, daß ich keinen Tag ohne      
  Unruhe hinbringen konnte sie bis gegenwärtig noch nicht erfüllt zu      
  haben.      
           
  O mein Wohlthäter! mein großmütiger Freund! Halten Sie      
  mich doch nicht des Undanks fähig! Dieser zweifelnde Gedanke störet      
  die Ruhe, in die ich mich gegenwärtig versezt fühle. Zürnen Sie nicht      
  auf mich. - Wie soll ich Ihnen den hohen Begrif ausdrükken, der      
  sich von Ihnen in meine Seele eingedrükt hatt? Nur Sinn und Gefühl      
  habe ich dafür, aber keine Worte - - - Meine ewige Verehrung,      
  meine ewige Liebe, meine ewige Dankbarkeit ist Ihnen, edler      
  verehrungswürdiger Mann gewidmet! Der Tag würde der glüklichste      
  meines Lebens seyn, an dem ich ganz den Bedürfnißen meines Herzens,      
  gegen den Mann von so großer Tugend, Gnüge thun könnte, der sich      
  mir in derselben unvergeßlich gemacht hat. - Wie viel bin ich Ihnen      
  schuldig, verehrungswürdiger Menschenfreund? Sie haben mich aus      
  dem Strudel gerißen, der mich zu verschlingen begann. Alles was      
  ich gegenwärtig bin, habe ich nur Ihnen zu verdanken. - O wie      
  wohl muß einem Manne von Ihrer moralischen Vollkommenheit seyn,      
  der sich solcher Thaten bewußt ist? Möchte mich mein Schiksaal so      
  glüklich machen, meinen Wunsch zu erfüllen, der mich nach einem diesem      
  ähnlichen Bewußtseyn ringen läßet! Nur dies sind die höchsten und      
  süßesten Freuden des Lebens, die aus einem solchen Bewußtseyn unserer      
  Tugend fließen. - Sie sind der Urheber aller Ruhe und des Wohlseyns,      
  welches ich gegenwärtig genüße, da ich vorhin viele Iahre meines      
  Lebens, in dem traurigsten Seelen=Zustande hingebracht; aber auch in      
  jeder Stunde, in jedem Augenblik, in welchem ich mich gegen die vorigen      
  Zeiten beßer fühle, wird Ihr theures Bild mir gegenwärtig, indem      
  ich täglich meinen Freund, meinen Erretter, meinen Wohlthäter verehre.      
  - Vollenden Sie nun noch Ihre Güte dadurch, daß Sie mir      
  bisweilen einige Augenblikke des Iahrs hindurch widmen, mir zu sagen,      
  daß Sie noch leben, wohl sind - und sich meiner erinnern; und von      
  Ihnen hoffe ich die Erlaubniß zu haben, hin und wieder an Sie      
  schreiben zu dürfen, und mich Ihrem Andenken und Ihrer Gewogenheit      
  zu emphelen. - Sobald ich nur etwas mehr in beßere Umstände      
  (:mag es auf eine Art seyn, die es will:) versezt bin, wird mein erster      
  Wille seyn, Ihnen die Summe wiederzuerstatten, die Sie mir so      
           
  großmütig vorgestrekt: Nehmen Sie unterdeßen nochmahls meinen      
  unaussprechlichsten Dank, meine Bewundrung, meine Verehrung, meine      
  Liebe dafür hin -      
           
  Von Berlin aus schrieb ich Ew. Wohlgeb. von einer BibliotekariatsStelle:      
  allein mein Vater war zu spät gekommen. Was meine Beförderung      
  auf andre Art betrift, als akademischer Lehrer, so werde ich      
  thun alles was ich kann, um hierin die Pflichten gegen mich selbst zu      
  erfüllen. Sollte es mir darin nicht sogleich glükken, so werde ich mir      
  suchen ein Paar hundert Thaler durch schreiben zu verdienen, und dann      
  mich auf einer Universität niederlaßen, als M. Collegia zu lesen. Ich      
  machte deswegen auch schon in Berlin mit dem Buchhändler Stahlbaum      
  einen Akkord über meine philosophischen Schriften, die ich ihm      
  im Verlag geben werde, und die zukünftige Ostermeße herauskommen      
  werden. Ich nehme daher gegenwärtig diese Arbeit vor: und bin ich      
  mit derselben fertig, so will ich mich an Aegypten machen, um meine      
  schon seit einiger Zeit im Sinne gehabten Gedanken über dieses Land      
  zu entwikkeln.      
           
  Ich schikke diesen Brief nach Berlin an meinen Verleger, dem      
  ich schreibe, Ew. Wohlgeb. ein Exemplar von meiner neuen Schrift      
  zugleich mit demselben zu übermachen. Ich wünschte Dero Urtheil      
  über dieselbe zu wißen.      
           
  Leider stehen uns vieleicht bald wieder traurige Zeiten der Schwärmerei      
  und Unwißenheit bevor; die Schwärmerei wandelt schon mit      
  mächtigen Schritten heran; es ist nicht jedem bekannt, von welchen      
  Seiten für den menschlichen Geist aufs neue solche Gefahren zu befürchten      
  sind: allein es ist beinahe gefährlich, seine aufrichtigen Gedanken      
  hierüber einem Briefe anzuvertrauen. Doch vieleicht wißen      
  Ew. Wohlgeb. hierüber schon selbst mehr als ich.      
           
  Mein Vater versichert Ew. Wohlgeb. seine größte Hochachtung      
  und Dankbarkeit. Ich habe den allerredlichsten Mann zum Vater:      
  seine Liebe macht mich unendlich glüklich, und in seiner Nähe fühle      
  ich eine innere süße Freude des Herzens, die einen sanften Frieden      
  über meine Seele verbreitet, so, daß ich izt, zwar wohl mit feierlichen      
  Empfindungen - aber doch nicht mit Unmuth und in aufrühriger      
  Leidenschaft, an die Stürme des Lebens zurükdenke, die ich bisher      
  ausgestanden habe. - Ob ich gleich gegenwärtig mein Schiksaal noch      
  lange nicht überwunden, und noch nicht von Besorgnißen wegen deßelben      
           
  befreit bin, so genüße ich gegenwärtig wenigstens diejenige innere Ruhe      
  und Stille, die nöthig ist, damit ich meine Geistes=Kräfte zusammenfaße,      
  zur Thätigkeit und Arbeit; dies war mir aber während meines fünfjährigen      
  Auffenthalts in Preußen nicht möglich. Welch ein andre      
  Mann hätte ich werden müßen, wenn ich in diesen fünf Iahren, die      
  Fähigkeit zum Arbeiten gehabt hätte, die sich nun gegenwärtig bei mir      
  einstellt. Aber so war ich krank dem Leibe und der Seele nach: und      
  nun schon beinahe sieben Iahre lang war ich ein Opfer des Grams      
  und seel=tödtender Traurigkeit geworden, wodurch alle Verhältniße      
  dieses Lebens für mich verrükt worden waren. - Mein Arbeiten und      
  Studieren ist Preußen, war nur die Frucht weniger abgestohlner      
  Augenblikke. - Mit meiner körperlichen Gesundheit hat es sich über      
  mein Vermuthen gebeßert. Gegenwärtig fühle ich von den Übeln gar      
  nichts, die mich so lange her gepeinigt hatten. Meine Verdauungssäfte      
  sind hergestellt, und ich kann wieder, so wie andre Menschen,      
  eßen und trinken.      
           
  Da Sie, edelmüthigster Menschenfreund, so vielen Antheil an      
  meinem Schiksaal genommen, so habe ich mir die Freiheit genommen,      
  so weitläufig über mich selbst zu reden. - Freuen will ich mich, wenn      
  ich höre, daß Ew. Wohlgeb. sich gesund und wohl befinden: Möge      
  doch die Welt noch lange das Glük haben, den Mann zu besizzen und      
  sich seiner zu freuen, der sich derselben als Edler und Weiser so wohlthätig      
  zu machen weiß. - Und nun leben Sie wohl, verehrungswürdiger,      
  edler, großmütiger Freund! Mein ganzes Herz vereinigt      
  sich in Hochachtung, Liebe und Seegen für Sie! - Friede und Heil      
  müße immerdar über Ihnen wohnen! - Leben Sie wohl, Edelster      
  unter den Menschen! Mit ganzer Seele verehre ich Sie: und in dem      
  ganzen Geist dieser Gefühle, erlaße ich mich als      
           
    Dero      
  W. den 15 Oct 83.        
    treugehorsamsten und ewig verbundensten      
    Pl.      
           
  Vergeben Sie mir, mein edelmüthiger Freund und Gönner, da      
  ich Ihnen damit beschwerlich falle, Sie zu bitten die Einlagen nebst      
  den drei Exemplaren meiner Schrift zu besorgen: Ich muß noch verschiedne      
  Konnexionen in Königsberg unterhalten: da ich Seit so so langer      
  Zeit, seit einem halben Iahr nichts aus Königsberg erfahren, so wußte      
           
  ich kein sicherer Mittel, als mich wegen richtiger Bestellung der Briefe      
  nochmals an Ew. Wohlgeb. zu wenden. Es soll nur dies einzige      
  Mahl noch geschehen: denn ich habe nunmehr HE Brahl (:sollte derselbe      
  nehmlich noch in Königsberg seyn:) gebethen, daß ich mich dieserhalb      
  an ihn wenden darf. Herr Brahl hat immer in der französischen      
  Straße gewohnt; vermuthlich weiß auch wohl der Buchhändler Hartung      
  oder Dengel sein Logis: vorzüglich bei letztern der Laden=Gesell      
  Friedrich. Auch habe ich HE Iohn, Haman und Brahl gebethen,      
  ihre Antworten an Ew. Wohlgeb. zu schikken. Vergeben Sie, edelmütiger      
  Freund, daß ich mir auch diese Freiheit genommen: allein      
  ich wußte gegenwärtig noch nicht, an wen ich mich dieserhalb wenden      
  sollte; da die Entfernung von Königsberg hieher sehr groß ist, das      
  Postgeld (:da ich überdem noch anderwärts in häufigen Korrespondenzen      
  stehe:) bei mir eine große Ausgabe ausmacht, so wollte ich gern      
  die Briefe von Königsberg in einem Paquet haben: Ich bitte Ew.      
  Wohlgeb. daher gehorsamst, die an mich einkommenden Briefe nach      
  Graudenz abzugeben bei Herrn S. P. Salomon, an mich zu      
  addreßiren von woher mir die Briefe werden richtig übermacht werden      
  Wenn Sie diese Briefe auch nur mit ein Paar Zeilen begleiten, damit      
  ich aus denselben erfahre, daß Sie nicht über mich zürnen, und meiner      
  noch nicht ganz vergeßen haben. - Ich schikke diese Briefe nach Berlin      
  an meinen Verleger Lange, dem ich auftrage sie franco nach Königsberg,      
  nebst 4 Exemplaren meiner Schrift zu senden. - Wie angenehm      
  würde es mir seyn, wenn mir Ew. Wohlgeb. Ihre Gedanken über      
  diese meine Schrift meldeten. - Ich hoffe, daß mein Osiris etc.      
  nunmehr wird die Preße verlaßen haben: ich gebe Herrn Langen      
  o[r]dre diese Briefe nicht eher nach Königsberg . . . . . . . . . . . .      
  . . . . . [die Michaelis] Messe kommt aber meine Schrift nicht [mit]      
           
           
           
     

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