Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 210

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Phänomen von dem Verhältnis unserer Einbildungskraft zum Verstande      
  02 seyn, welches wir zwar durch mit Zahlen angestellte Versuche warnehmen,      
  03 aber uns gar nicht aus Verstandesbegriffen erklären könnten.      
  04 nun kan aber das erstere allerdings geschehen: folglich ist die Vermuthung      
  05 des letzteren nicht nöthig.      
           
  06 Mir scheint das Befremdliche, welches der scharfsinnige Verfasser      
  07 der Aufgabe in der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der Ausführung      
  08 des Verstandesbegrifs von einer mittleren Proportionalgroße      
  09 durch die Arithmetik gefunden hat, sich eigentlich auf die Möglichkeit      
  10 der geometrischen Construction solcher Größen, die doch in      
  11 Zahlen niemals vollständig gedacht werden können, zu gründen.      
           
  12 Denn, daß sich zu jeder Zahl eine Qvadratwurzel finden lassen      
  13 müsse, allenfalls eine solche, die selbst keine Zahl, sondern nur die      
  14 Regel der Annäherung zu derselben, wie weit man es verlangt, scheint      
  15 mir diese Befremdung des Verstandes über √ √2 eben nicht zu bewirken:      
  16 sondern daß sich dieser Begrif geometrisch construiren läßt, mithin      
  17 nicht blos denkbar, sondern auch in der Anschauung adäqvat anzugeben      
  18 sey, wovon der Verstand den Grund gar nicht einsieht, ja nicht einmal      
  19 die Möglichkeit eines Objects √ = √2 anzunehmen befugt ist, weil er      
  20 so gar nicht einmal den Begrif einer solchen Qvantität in der      
  21 Zahlanschauung adäqvat darzulegen im Stande ist desto weniger also      
  22 erwarten sollte, daß ein solches Qvantum a priori gegeben werden      
  23 könne.      
           
  24 Die Nothwendigkeit der Verknüpfung der beyden sinnlichen Formen,      
  25 Raum und Zeit, in der Bestimmung der Gegenstände unserer Anschauung,      
  26 so daß die Zeit, wenn sich das Subject selbst zum Objecte      
  27 seiner Vorstellung macht, als eine Linie vorgestellt werden muß, um      
  28 sie als Qvantum * zu erkennen, so wie umgekehrt eine Linie nur dadurch,      
  29 daß sie in der Zeit construirt werden muß, als Qvantum gedacht      
  30 werden kan, - diese Einsicht der Nothwendigen Verknüpfung des      
  31 inneren Sinnes mit dem äußeren selbst in der Zeitbestimmung unseres      
  32 Daseyns, scheint mir zum Beweise der objectiven Realität der Vorstellungen      
  33 äußerer Dinge (wieder den psychol: Idealism) Handreichung      
  34 zu thun, die ich aber jetzt nicht weiter verfolgen kan.      
           
           
           
     

[ Seite 209 ] [ Seite 211 ] [ Inhaltsverzeichnis ]