Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 442 |
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| 01 | wird: so muß der Mensch doch nachmals wieder verwildert und in Rohigkeit | ||||||
| 02 | verfallen sein. | ||||||
| 03 | Disciplin verhütet, daß der Mensch nicht durch seine thierischen Antriebe | ||||||
| 04 | von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche. Sie muß ihn | ||||||
| 05 | z. E. einschränken, daß er sich nicht wild und unbesonnen in Gefahren | ||||||
| 06 | begebe. Zucht ist also blos negativ, nämlich die Handlung, wodurch man | ||||||
| 07 | dem Menschen die Wildheit benimmt, Unterweisung hingegen ist der | ||||||
| 08 | positive Theil der Erziehung. | ||||||
| 09 | Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disciplin unterwirft | ||||||
| 10 | den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihn den Zwang | ||||||
| 11 | der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses muß aber frühe geschehen. So schickt | ||||||
| 12 | man z. E. Kinder Anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit | ||||||
| 13 | sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, | ||||||
| 14 | still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben | ||||||
| 15 | wird, damit sie nicht in Zukunft jeden ihrer Einfälle wirklich auch und | ||||||
| 16 | augenblicklich in Ausübung bringen mögen. | ||||||
| 17 | Der Mensch hat aber von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, | ||||||
| 18 | daß, wenn er erst eine Zeit lang an sie gewöhnt ist, er ihr Alles aufopfert. | ||||||
| 19 | Eben daher muß denn die Disciplin auch, wie gesagt, sehr frühe in Anwendung | ||||||
| 20 | gebracht werden, denn wenn das nicht geschieht, so ist es schwer, | ||||||
| 21 | den Menschen nachher zu ändern. Er folgt dann jeder Laune. Man sieht | ||||||
| 22 | es auch an den wilden Nationen, daß, wenn sie gleich den Europäern | ||||||
| 23 | längere Zeit hindurch Dienste thun, sie sich doch nie an ihre Lebensart | ||||||
| 24 | gewöhnen. Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, | ||||||
| 25 | wie Rousseau und Andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem | ||||||
| 26 | das Thier hier gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich entwickelt | ||||||
| 27 | hat. Daher muß der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften | ||||||
| 28 | der Vernunft zu unterwerfen. Wenn man ihm in der Jugend seinen | ||||||
| 29 | Willen gelassen und ihm da nichts widerstanden hat: so behält er eine gewisse | ||||||
| 30 | Wildheit durch sein ganzes Leben. Und es hilft denen auch nicht, die | ||||||
| 31 | durch allzugroße mütterliche Zärtlichkeit in der Jugend geschont werden, | ||||||
| 32 | denn es wird ihnen weiterhin nur desto mehr von allen Seiten her widerstanden, | ||||||
| 33 | und überall bekommen sie Stöße, sobald sie sich in die Geschäfte | ||||||
| 34 | der Welt einlassen. | ||||||
| 35 | Dieses ist ein gewöhnlicher Fehler bei der Erziehung der Großen, | ||||||
| 36 | daß man ihnen, weil sie zum Herrschen bestimmt sind, auch in der Jugend | ||||||
| 37 | nie eigentlich widersteht. Bei dem Menschen ist wegen seines Hanges zur | ||||||
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